Matthias Grünewald - Matthäus Gotthardt Neithart - Meister Mathis

Die Leiden Jesus sind die Leiden der Bauern

 

 

Die Tauberbischofsheimer Kreuzigung. Das wahre Meisterwerk von Matthias Grünewald, genauer von Mathis, dem Maler! Jesus, übergroß, ans Kreuz genagelt, zwischen Maria und Johannes. Der geschundene Körper Jesus, die surrealistisch verdrehten Beine, im Maßstab vergrößert gegenüber der Darstellung von Maria und Johannes. Der schmerzverzerrte Blick geht nach unten, die Hände durchbohrt, greifen, zeigen nach oben, wirken antithetisch. Das Lendentuch Jesus zerfetzt! Zerfetzt? Wer trägt zerfetzte Kleider, ramponierte Kleidung, durchlöcherte Kleidungsstücke?

 

Die Mutter Jesus, aus dem überprächtigen Sonntagsstaat der Stuppacher Madonna, aus dem „Sommeridyll des Kleinbürgerfriedens von Stuppach" (Zülch) zurückgekehrt an die Seite ihres gekreuzigten, überaus leidenden Sohnes, in sich versunken, einfach gekleidet, ärmlich aussehend. Auch Johannes, am Kreuz an der Seite Jesus, trägt teilweise löchrige Kleidung! Fetzen, Löcher und Flecken im Wams trugen Bauern, trugen die Bauern des 16. Jahrhunderts. Dürers Bauernbilder geben davon beredtes Zeugnis. Jesus ein Armer, Johannes ein Armer, Maria ärmlich, Armer wie Bauer, Bauer wie Armer. Radikaler als Mathis hat noch nie vorher ein Künstler, ein Maler, Jesus direkt in die aktuelle Zeit gestellt, in die deutsche Landschaft eingefügt, in die kommende revolutionäre Bewegung des Bauernkrieges vorgereiht. Walter Karl Zülch identifizierte Johannes in seiner grandiosen Studie über den historischen Mathis als fränkischen Bauer, mit entschlossenen Gesichtszügen zu Zukünftigem bereit. Johannes wird mit diesem Gesichtsbezug zum Fränkischen, zum kommenden fränkisch Aufständischen, zum personalisierten Aufstandsbotschafter. Wohl 1523 oder auch bis kurz vor dem Bauernkrieg gemalt zeigen die Tauberbischofsheimer Tafeln vom revolutionären Up-To-Date-Seins Matthias Grünewalds. Seltener als Mathis hat ein Künstler die Zeichen seiner Zeit auf eine Leinwand gemalt!

 

Joris-Karl Huysmans, der als einer der ersten - in seinem Roman La-Bas (Tief unten) - die ihn nahezu schockierende Wirkung der Grünewaldschen Kreuzigung schilderte, hat auch wie kein anderer, als Franzose wohl forciert, erkannt, daß Grünewald in der Tauberbischofsheimer Kreuzigung nicht biblische Personen, fremdländische Gewänder, ferne Landschaften, sondern deutsche Gegenwart des 16. Jahrhunderts auf die Leinwand farblich wirksam malte. Grünewald der malerische Zeitgenosse, im Pulsschlag einer Aufruhr schwangeren Zeit, in Wunsch nach einer grundlegenden Reformation, in der intellektuell-künstlerischen vorausschauenden Solidarität mit der bäuerlichen Schicht. Der brutale Realismus, der das Entsetzen und die qualvolle Peinigung detailreich wiedergebende Naturalismus Grünewalds bei der Tauberbischofsheimer Darstellung Jesus am Kreuz wirft die Fragen nach dem Warum auf. Die zu deutenden Zeichen der Tauberbischofsheimer Tafeln öffnen den Blick auf die zur Zeit von Mathis aufbrechende Gegenwart, auf die aufkommende Hoffnungsbewegung des 16. Jahrhunderts. Der Bauernkrieg, die frühbürgerliche Revolution, die evangelische Reformation, klopfen mächtig an. Die Tauberbischofsheimer Tafeln Grünewalds sind der gewaltige, lautstarke Paukenschlag einer sich bereits im Untergrund formierenden Aufstandsbewegung. Die Leiden Jesus sind die Leiden der Bauern! Sie sind als eine der letzten von Grünewald gemalten Bilder auch Zeugnis seiner persönlichen Integrität und Überzeugung, einer der sich auch durch den Dienst als Hofmaler beim mächtigsten deutschen Kirchenfürsten, nicht verbiegen ließ, nicht die Augen vor der bedrückten Wirklichkeit des bäuerlichen Standes verschloß.

 

Zwar ist heutzutage nichts urkundlich Belegtes über Aktivitäten von Mathis im Bauernkrieg zu finden, aber der Meister Maler war nicht blind, vor allem nicht zeit- und regionsfremd! Er war nicht nur am richtigen Platz in seiner Zeit als Bilder zeichnender Vorschein einer kommenden Reformation, er war auch aufgeschlossen zum Raum, zur Region, in der er sich befand. Man muß Grünewald in seiner Zeit und in seiner Region, die war um 1525 der fränkische Oberstift von Kurmainz, sich vergegenwärtigen, um ihn zu verstehen, deuten zu können. In dem 1528 erstellten Inventar seines Frankfurter Nachlaßes sind deutlichste Belege zu finden: „27 predeg Lutters ingebunden", „1 cleyn buchelgin ingebunden, erclerung der 12 artikeln des christlichen glaubens", „1 rol uff eyn geburgen der uffror halben", also 27 Lutherpredigten, gebunden, 1 Erklärung der 12 Artikel der Bauern, gebunden in einem kleinen Format, eine Urkunde über den Bauernaufstand. Seligenstadt, in dem Mathis seine Werkstatt hatte, über den 9-Städte-Bund mit Tauberbischofsheim damals verbunden, war ein Brennpunkt des bäuerlich-bürgerlichen Aufstandes am Untermain. Selbst wenn über Mathis keine Dokumente der direkten Beteiligung am Aufstand vorliegen, er gehörte zu den intellektuellen, künstlerischen Wegbereitern. Und nicht umsonst wird er sich vor der Ankunft von Erzbischof Albrecht in Aschaffenburg davon gemacht haben. Von der Forschung kaum beachtet, wohl nicht verstanden, ist die Beschreibung im Inventar: „2 lid an eyn taffel sin wiß bereidt und uff dem einen 1 crucifix, Maria und Sant Johannes", also zwei Altarflügel, auf dem einen ein Kreuz, sowie Maria und Johannes: Die Tauberbischofsheimer Kreuzigung mit Maria und Johannes auf dem Bild und die zweite Tafel die Kreuztragung!

 

Die Tauberbischofsheimer Kreuztragung verläßt die künstlerische Tradition in Grünewalds Zeit radikal. Neues, noch nie vorher Gesehenes tritt in diesem sorgfältig komponierten, konzipierten Bild auf. Die Renaissance artige Hintergrundarchitektur steht nicht in Jerusalem, sondern bringt Rom als Sitz des Papstes aufs Bild. Die Inschrift aus Esaias 53, also Jesaias 53, „Er ist umb unser sund willen gesclagen", trägt eine wichtige Interpretationsgrundlage der Komposition direkt auf dem Gebäude des Laterankomplexes, der Kathedrale Romes, wie Maria Lanckoronska in ihrer Studie zu Mathis entziffert. Passend dazu ist die Bekleidung vieler der Schergen mit nahezu purpurroten Farbmischungen, also der Farbe der römischen Macht, versehen. Einer der Schergen ist mit einem einer Mozetta ähnlichen Schulterkragen ausgestattet, dem Kleidungsstück höherer katholischer Geistlicher. Am linken Rand, auf einem Pferd sitzend, identifiziert Lanckoronska eine Gesichtskarikatur von Papst Leo X., anhand der kurzsichtigen Augen und der hervorspringenden Unterlippe erkennbar. Jesus wird also in Rom geschlagen, vor der päpstlichen Kirche, von päpstlichen Helfern!

 

Die Tauberbischofsheimer Kreuztragung ein reformiertes Passionsbild, das vom bisher unbekannten Auftraggeber als Bildprogramm mit Grünewald übereinstimmend, konzipiert wurde? Lanckoronska und Arndt/Moeller neigen zu dieser Auffassung! „In jener bibelstarken Epoche der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert bedeutete bereits die Wahl einer Stelle aus dem Propheten Jesaias, der in einer Zeit religiösen Sittenverfalls lebte, eine Parallele zur Gegenwart. Wie Jesaias gegen die religiös-sittliche Entartung seiner Zeitgenossen predigte, so will auch der Auftraggeber der Tafel, ein lutherischer Geistlicher, durch diese seinen Unwillen über die Sündhaftigkeit der Umwelt und ihre Verspottung Gottes zum Ausdruck bringen." Auch Arndt/Moeller zielen in die Richtung, daß die Kreuztragung als reformiertes Bildprogramm konzipiert wurde und auch dass das Neue dieses Bildes ausmacht. „Dem von Luther eingeforderten gereinigten, keineswegs ja grundlegend neuen Verständnis des Leidens Christi entspricht die von Mathis Gothart komponierte Szene sowohl in dem, was sie zeigt, als auch in dem, was sie eben nicht zeigt! Die Kreuztragung steht uns in einer Umformung vor Augen, die mit der Konzentration auf die schlagenden Schergen das Jesaja-Wort vergegenwärtigt und zugleich alle in der Tradition selbstverständlich gewordenen, die Einfühlung der Gläubigen stimulierenden 'compassio'-Motive konsequent ausschließt. Man darf also festhalten: In kaum zu leugnender Parallele zu dem Sermon von 1519 muss es dem unbekannten Auftraggeber der Tauberbischofsheimer Tafel – und im Einklang mit ihm dem Maler – darauf angekommen sein, ein „reformiertes" Passionsbild zu konzipieren." Inschrift und Bildkomposition passen also zusammen.

 

Ebenso sind beide Bilder, Kreuztragung und Kreuzigung, als reformierte Einheit ansehbar, als Vorklang zum Bauernkrieg, der als frühbürgerliche Revolution eine christliche Reformation errichten wollte. Der Tauberbischofsheimer Bürgermeister Aichhorn legte nach der Niederschlagung des Bauernkrieges, an dem sich Tauberbischofsheim führend im kurmainzischen 9 Städte Bund im Oberstift beteiligt hatte, einen Rechenschaftsbericht vor, daß es die Absicht der Tauberbischofsheimer war „das heilig wort gotts und ein christlich reformation helffen uffrichten und handthaben". Arndt/Moeller spekulieren, dass auch Bürgermeister Aichhorn Stifter des Werkes hätte sein können. Die Tauberbischofsheimer Christliche Reformation, die beiden Tauberbischofsheimer Tafeln Kreuztragung und Kreuzigung hätten damit einen weitaus größeren Zusammenhang als bisher bekannt. Der 9-Städte-Bund im kurmainzischen Oberstift als reformatorische Bewegung schon vor dem Bauernkrieg?

 

Waren im Frankfurter Inventar die beiden Tauberbischofsheimer Tafeln gemeint, dann wären diese erst nach 1528 nach Tauberbischofsheim gekommen, wohl in einer Zeit nach dem Bauernkrieg, in der die Reformation Tauberbischofsheim allerdings nur kurzfristig wieder erreichte. Mit der Niederlage im Bauernkrieg ist es in Tauberbischofsheim nicht zu Bilderstürmen gekommen, obwohl ab 1550 die Reformation wieder diese Kleinstadt tangierte. Der Tauberbischofsheimer Pfarrer Paulus Jörg gedachte sich zu verheiraten. Die Grünewaldschen Bilder haben in der Tauberbischofsheimer Kirche im stillen Winkel einer Seitenkapelle die Jahrhunderte überdauert, wenig beachtet, bis sie von einer wenig an ihnen interessierten altgläubig katholischen Geistlichkeit und dem Stiftungsrat 2 mal verschachert wurden und so in die Karlsruhe Kunsthalle kamen. Ein später Sieg des Tauberbischofsheimer Katholizismus über Grünewald? Tauberbischofsheims größter Schatz wurde zum größten Verlust innerhalb der vielen historischen Verluste, die diese Kleinstadt an der Tauber meistens sich selbst verursachte. Leider verhinderte kein zweiter „Zugelder", der dem Abriß des Türmerturmes mit einem entschiedenen Einsatz entgegenwirkte, die Verschacherung der beiden Bilder.

 

Der aus Gissigheim stammende Schriftsteller Wilhelm Weigand, der 1889 in seinem Erstlingswerk „Die Frankenthaler" Tauberbischofsheim und seine Lebenswelt als Vorbild nahm, porträtierte und charakterisierte, ließ am im Städtchen zu dieser Zeit herrschendem klein- und spießbürgerlichen Kleinstadtgeist wenig Vorteilhaftes übrig: „Alles, ohne Unterschied der Person oder des Standes, lebte gedankenlos von der Hand in den Mund. Die großen Streitfragen und Probleme, über die sich draußen Parteien und Stände heiser redeten, sowie die gewinnbringenden Verkehrswege berührten längst den Ort nicht mehr, und die Gewerbetreibenden, samt den Stadtbauern, die mit den gleichen Augen wie ihre friedlichen Ochsen durch die Tore zogen, hatten Mühe genug sich auf den Beinen zu halten, und waren, aus purer Angstmeierei, jeder fruchtbaren Neuerung von Grund aus abgeneigt. Ja, sie betrachteten Männer wie ihn, der die Welt und den die Welt gesehen, mit blöden, mißtrauischen Maulwurfsaugen." Weigand listet noch ganze Batterien der Bildhaftigkeit auf, um Tauberbischofsheim und die Bischemer um 1900 auszumalen: „Mostschädel", „Häfelesgucker", „Duckmäuser", "Weinspießer", „Weinsumpf", „behäbige Kleinstadt", „gottverlassenes Heuchlernest" usw.  Das paßt durchaus zu einem altväterlichen Milieu, das Bilder von besonderer Güte und Klasse, die dem katholischen Betrachter wie ein Stachel schmerzen, kurz nach der Wiederentdeckung aus dem stark begrenzten Kirchturmshorizont hinausbeförderte.

 

Als PDF erhältlich: Die Leiden Jesus sind die Leiden der Bauern

Eine Spurensuche in den Tauberbischofsheimer Bildtafeln Kreuztragung und Kreuzigung von Matthias Grünewald

 

 

 

 

 

Kopie der Kreuzigung in der St. Martinskirche Tauberbischofsheim. Eine weitere Kopie der Kreuzigung und Kreuztragung im Tauberfränkischen Museum, Schloß Tauberbischofsheim. Abbildung siehe unten:


 



 



Kreuztragung:



 


 

 

Literatur

 

 

Maria Lanckoronska, Matthäus Gotthart Neithart. Sinngehalt und Historischer Untergrund der Gemälde. Darmstadt 1963

 

Karl Arndt / Bernd Moeller: Die Bücher und letzten Bilder Mathis Gotharts des sogenannten Grünewalds. Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I Philologisch-Historische Klasse. Jahrgang 2002, Nr. 5. Göttingen 2002

 

Eberhard Ruhmer, Anmerkungen zu den Tafeln. In: Matthias Grünewald. Die Gemälde. Köln, London 1958

 

 

 

Hier der vollständig 2008 als PDF veröffentlichte Text, auch wenn es starke Wiederholungen zur oben stehenden Version gibt:


Vorwort


Spurensuchen zum Bauernkrieg 1525 und seinen Vorläufern führte auch auf die Spur der Tauberbischofsheimer Tafeln von Matthias Grünewald, Kreuztragung und Kreuzigung. Wir hegen kein kontemplatives Verhältnis, oder eine rein wissenschaftlich geprägte Einstellung zu diesen einmaligen Bildern, die leider nur noch als Kopien im ehemaligen kurmainzischen Schloß der Kleinstadt Tauberbischofsheim erhalten sind. Nachdem die Bilder nun in der Kunsthalle Karlsruhe regionsfern verwahrt werden, wollen wir uns zumindest die Interpretationsfreiheit nicht rauben, nicht verwässern lassen. Wir halten die beiden Tafeln für lautstarke Paukenschläge des 1525 eintretenden Bauernkrieges! Die Leiden Jesus in der Tauberbischofsheimer Kreuzigung sind die Leiden der Bauern. Wir leiden heute auch an kunsthistorischen Wissenschaftlern, die die Botschaft der Bilder in reiner Wortdrechslerei verdampfen lassen wollen. Anhand einiger Fragestellungen wollen wir die Bedeutung der Tafeln beleuchten und Spuren erhellen.



Die Wiederentdeckung
der Tauberbischofsheimer Tafeln

Der Tauberbischofsheimer Fotograf Joseph Heer bildete 1873 die Kreuzigung als Foto ab und stellte intensive Nachforschungen nach dem erschaffenden Künstler an. Schon im selben Jahr soll der bei der Recherche kontaktierte Oskar Eisenmann, Leiter der Kasseler Gemäldegalerie, das Bild Grünewald zugeschrieben haben. Dieser riet einem befreundeten Sammler zum Ankauf der Tafeln, die als Leihgabe in die Kasseler Gemäldegalerie gelangten. Eisenmann publiziert 1895 in der Zeitschrift „PAN“ einen Aufsatz über die Kreuzigung (Berlin 1895, 1. Jahrgang, Heft 2, Seite 94). 1888 entdeckte der am Naturalismus seiner Zeit (Vgl. den wichtigsten Schriftsteller des Naturalismus, Emile Zola mit drastischen, ungeschminkten Schilderungen des Kleinbürgertums, der Proleten, wie z. B. in Therese Raquin, Germinal; im Jahr 1889 nahm der tauberfränkische Schriftsteller Wilhelm Weigand Tauberbischofsheim als Frankenthal in seinem Erstling zum Vorbild, wenn auch unter Ablehnung des Naturalismus gelangen ihm doch realistische Schilderungen der Tauberbischofsheimer Unterschicht; Grünewald war leider für Weigand kein Thema, dagegen wird Riemenschneider erwäht) involvierte Autor Joris-Karl Huysmans, ein Franzose, die Tauberbischofsheimer Kreuzigung, die in ihrem schockierendem Realismus der unermeßlichen Leiden, der erschreckenden, aufwühlenden Darstellung einer tödlichen Katastrophe, für ihn zur fast lebenslangen Beschäftigung mit Grünewald wurde. 1895 wurde sein Roman „La-bas“ (Tief unten) erstmals ins Deutsche übersetzt. Die huysmanssche Interpretation des Bildes durch die Romanhauptfigur Durtal, eines Schriftstellers der den Satanismus erforschen will, fand in Deutschland reichhaltigen Widerhall, vielfältige Nachfahren Zeichen lesender und kommentierender Kunsthistoriker und Kritiker. Schon bei Huysman, und seinem teilweisen alter ego Durtal war die radikale Überschreitung nüchterner Bildbetrachtung und -analyse angelegt, ein Meilenstein einer bildnerischen Exegese, die nur kraftvoll ausmalend und das Neue sowie Versteckte des Bildes verstehend wollend übersteigert werden kann. Nahezu gefordert war hier und nun die Identifikation Jesus als einem Teil der Armen,  als einem Fürsprecher der Nichtmächtigen, Unterdrückten. Huysmans hat auch wie kein anderer, als Franzose wohl forciert, erkannt, daß Grünewald in der Tauberbischofsheimer Kreuzigung nicht biblische Personen, fremdländische Gewänder, ferne Landschaften, sondern deutsche Gegenwart des 16. Jahrhunderts auf die Leinwand Farben wirksam malte. Grünewald der malerische Zeitgenosse, im Pulsschlag einer Aufruhr schwangeren Zeit, in Wunsch nach einer grundlegenden Reformation, in der Solidarität mit der bäuerlichen Schicht. Der brutale Realismus, Naturalismus Grünewalds bei der Darstellung Jesus am Kreuz wirft die Fragen nach dem Warum auf. Die zu deutenden Zeichen der Tauberbischofsheimer Tafeln öffnen den Blick auf die aufbrechende Gegenwart, auf die aufkommende Hoffnungsbewegung des 16. Jahrhunderts. Der Bauernkrieg, die frühbürgerliche Revolution, die evangelische Reformation, klopfen mächtig an. Die Tauberbischofsheimer Tafeln Grünewalds sind der gewaltige, lautstarke Paukenschlag einer sich bereits im Untergrund formierenden Aufstandsbewegung. Sie sind als letzte von Grünewald gemalte Bilder auch Zeugnis seiner persönlichen Integrität, der sich auch durch den Dienst als Hofmaler beim wohl mächtigsten deutschen Kirchenfürsten, nicht verbiegen ließ. Es gibt eine klare Schwelle der Interpretation der Tauberbischofsheimer Tafeln: Erkennen von Bauernkrieg, Reformation oder eher Versinken in kunsthistorischer Kontemplation, unentschiedener Gelehrsamkeit mit Ablehnung einer Verbindung zum Bauernkrieg, zum Bauerntum, zur Reformation.


Für Durtal, für Huysman, war Jesus der Christus der Armen. Zu den Armen gehören neben den Besitzlosen, Mißgebildeten, Bettlern die Bauern. Johannes, an der Seite des gekreuzigten Jesus, war für ihn „eine Art Vagabund oder grober schwäbischer Bauernkerl“. Ersetzen wir das schwäbisch mit fränkisch, dann ist auch der Bauernbezug richtig regional fränkisch verordnet. Huysman widmete den Grünewaldschen Gemälden noch mehrere Essays, entdeckt darin die Singularität der Tauberbischofsheimer Kreuzigung, die gegenüber anderen Grünwaldschen Kreuzigungsdarstellungen durch die Reduktion auf drei Personen, mit der in den Vordergrundstellung des gekreuzigten Jesus, zunächst geringer sich darstellt, aber in der Konzentration auf drei Personen und in der ungeheuren Wucht der Darstellung des Elends, der erlittenen Schmerzen, bisherige Kreuzigungsbilder des Meisters weit überschreitet.


„Jesus ist ein Schächer, Johannes ein ausgestoßener, herabgekommener Mensch und der Vorläufer Christi ein Landsknecht; wenn wir auch annehmen, daß sie nur deutsche Bauern sind, so ist doch die Madonna gänzlich verschiedener Abstammung: sie ist eine Königin, die ins Kloster ging, eine wunderbare Orchidee, die der Flora eines unbekannten, unbestimmbaren Bodens entsproß.


Wer die beiden Bilder von Karlsruhe und Colmar gesehen hat, wird die Eindrücke ziemlich klar auseinanderhalten können. Die Karlsruher 'Kreuzigung' ist überlegter, sicherer, der Eindruck der Hauptfigur wird hier nicht zugunsten der Umgebung gefährdet; sie ist auch weniger trivial und viel schrecklicher. Vergleicht man den schauerlich geöffneten Mund dieses Christus und die vielleicht plebejischere, doch weniger herabgekommene Physiognomie seines heiligen Johannes mit der Schlafsucht des Colmarer Christus und der alten Landstreicherfratze des Jüngers, dann erscheint uns das Karlsruher Bild weniger mutmaßlich, packender und lebendiger, und in seiner scheinbaren Schlichtheit kraftvoller ...“


„Er ist zugleich Naturalist und Mystiker, wild und zivilisiert, freimütig und erkünstelt. Er verkörpert den deutschen, rechthaberischen, schulweisen und rauhen Geist, der zu jener Zeit von der Reformationsidee bewegt war, ziemlich klar. War er wie Cranach und Dürer mitverwickelt in diese religiöse Bewegung, die schließlich zur unerbittlichsten Dürre führte, nachdem das Eis der protestantischen Sümpfe überschritten war? Ich weiß es nicht. Er hat auf jeden Fall jene herbe Inbrunst und jene Vertraulichkeit des Glaubens, die den illusorischen Frühling zu Beginn des XVI. Jahrhunderts kennzeichnen. Doch verkörpert er in meinen Augen noch vielmehr das Erbarmen mit den Kranken und Armen.“ (Aus: Joris-Karl Huysmans, Zwei Essays über Grünewald. In: Matthias Grünewald. Die Gemälde. Köln, Londond 1958, S. 11/12 und 25)

Weitere Literatur:
Joris-Karl Huysmans: Là-Bas. 1895. In deutscher Übersetzung im Reclam Verlag 1994 Stuttgart: Tief unten
Ewald Maria Vetter: Der verkaufte Grünewald. Tauberbischofsheimer Trilogie. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 24, 1987, Seite 69-117
Franz Rieffel: Der Christus am Kreuz des Matthias Grünewald in Karlsruhe. In: Zeitschrift für bildende Kunst. Neue Folge 15, 1904, Seite 153-156
Jessica Mack-Andrick: Von beiden Seiten betrachtet. Überlegungen zum Tauberbischofsheimer Altar. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.): Grünewald und seine Zeit. Katalog zur großen Landesausstellung Baden-Württemberg. Karlsruhe 2007,  Seite 68-77



Die Leiden Jesus sind die Leiden der Bauern

Das Tauberbischofsheimer Kreuzigungsbild von 1523 stellt Jesus als unterdrückten Bauern dar. Von den Bauernkriegshistorikern hat das wie kein anderer bisher Günter Vogler ins Bewußtsein gerückt. Die ans Kreuz geschlagene Bauerngestalt tritt in seiner Übergröße derart in den Vordergrund als wäre sie ein Signal des kommenden Aufruhrs, noch im Sterben zum Widerstand aufrufend:  "Der Maler Mathis Gothardt-Neidhardt, genannt Grünewald, malte zwischen 1512 und 1515 für den Altar des Antoniterklosters in Isenheim die Kreuzigung Christi. Das Werk reflektiert die spannungsgeladene Situation am Vorabend der deutschen frühbürgerlichen Revolution. Die Leiden des Gekreuzigten sind als Leiden des Volkes in der feudalen Ausbeuterordnung deutbar. Grünewalds Christus ist eine Bauerngestalt, deren gekrümmte Finger beschwörend zum Himmel gestreckt sind: Anklage und Aufruf zum Widerstand zugleich. Als der große Künstler 1523/1524 das Motiv erneut in einem Altarbild für die Stadtkirche in Tauberbischofsheim aufnahm, da steigerte er noch diese Gebärde, rückte er die ans Kreuz geschlagene Bauerngestalt ganz in den Vordergrund, so als wüßte er, daß die Ausgebeuteten in Stadt und Land den Aufruf zum Widerstand bereits vernommen hätten und die Erhebung gegen feudale Ausbeutung und Knechtschaft unmittelbar bevorstand." (Günter Vogler, Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk - Der deutsche Bauernkrieg 1525, Berlin 1983 2. überarbeitete und erweiterte Auflage (1. Auflage 1975) S. 192f.). Günter Vogler hat eine präzise kurze Formel der Tauberbischofsheimer Kreuzigung gefunden: Die Leiden des Gekreuzigten sind die Leiden des Volkes. Die Leiden Jesus sind die Leiden der Bauern.



Kann ein Heiliger ein Bauer sein?

Mathis der Maler
Oper in sieben Bildern

Ein musikalisches Gedenken an die Schlacht von Königshofen leistet das vierte Bild "Königshofen" von Paul Hindemith's Oper in sieben Bildern "Mathis der Maler" (1935). Diese ist nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Symphonie von Hindemith! Hindemith schöpft in seinem "Mathis" seine biographisch bedingten Kenntnisse der Fränkischen Region aus. Grünewald wirkte als fürstbischöflicher Maler in Aschaffenburg, dem 2. Regierungssitz des Mainzer Bischofs im Mainzer Oberstift. In Hanau geboren, hat Hindemith deshalb die nahe gelegene Stadt Aschaffenburg früh kennen gelernt und ist auch so auf sein Sujet des "Mathis", und damit auch auf den Bauernkrieg, gestoßen. Im Begleittext zur Oper finden sich Hinweise auch zur "Stuppacher Madonna", ursprünglich nach Aschaffenburg gehörend und auf die Tauberbischofsheimer Kreuzigungstafel (jetzt in Karlsruhe).


In den Worten des Domchedanten des Mainzer Domkapitels, Lorenz von Pommersfelden, spürt Hindemith die versteckte Botschaft des Tauberbischofsheimer Kreuzigungsbildes auf, das die schrecklich gepeinigte Gestalt Jesus vom Isenheimer Alter aufnimmt und nochmals verstärkt: "Das Kapitel ist gegen den Maler da. Einen kranken Bettelmann stellt er uns als Heiland hin. Für uns ist ein Heiliger kein Bauer." (Zweites Bild, Vierter Auftritt) Aber für Grünewald sind die Leiden des Heilands die Leiden der (fränkischen) Bauern. Als Sympathisant der fränkischen Bauern nimmt "Mathis" in der Oper Hindemiths an der Schlacht von Königshofen am 2. Juni 1525 bei.


Wie Hindemith im Begleittext einräumt, will er kein Werk leisten, das Kunsthistorikern genügen soll. Dies gilt auch für die geschichtlichen Zusammenhänge, die in der Oper entweder kurz gefaßt oder auch aus Verständnisgründen zusammengefaßt, zusammengebracht werden müssen.


Hindemiths eindeutige Darstellung Grünewalds als Parteigänger der Bauern und des Bauernkriegs hat die Bedeutung der Tauberbischofsheimer Bilder, kurz vor dem Bauernkrieg erstanden, und wohl auch seine letzten Bilder, popularisiert. Zudem kam wieder ins Bewußtsein, dass Matthias Grünewald ureigenere Namen hat, die durch die Zuschreibung als Grünewald überdeckt wurden, denn sowohl Oper als auch Symphonie tragen den Namen Mathis.
Paul Hindemith, Mathis der Maler. Oper in sieben Bildern. 1935
3-CD-Box, Aufnahme des Westdeutschen Rundfunks, Köln, 30. April – 9. Mai 1990, Studio Stoberger Straße. Produktionsleitung: Heiner Müller-Adolphi, Christoph Held. Tenor: Josef Protschka. Chor des Norddeutschen Rundfunks – Kölner Rundfunkchor – Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester. Leitung: Gerd Albrecht. 1994 WERGO Schallplatten GmbH, Mainz



Zerfetzte Kleidung
als Bindeglied zwischen Jesus und Bauern

Jesus, übergroß, ans Kreuz genagelt. Der schmerzverzerrte Blick geht nach unten, die Hände aufgenagelt, greifen, zeigen nach oben, wirken antithetisch. Das Lendentuch Jesus zerfetzt! Zerfetzt? Wer trägt zerfetzte Kleider, Kleidung, Kleidungsstücke? Das war der wenig am Äußerlichen, an der Äußerlichkeit gelegenen Bauernschaft zueigen. Erst mit der Erfindung der Fotographie machten sich auch die Bauern ihr Selbstbildnis zur Selbsterkenntnis, stehen erstarrt dem Fokus des Fotoapparats gegenüber, sei es auf dem Hof, sei es auf der Ernte. Der Bauer lernte durch die Fotos sich mit dem Blick des anderen, des Städtischen, zu sehen und achtete zunehmend auf sein Äußeres. Jesus aber wird mit einem zerfetzten Lendentuch von Grünewald gezeigt. Ein Heiliger, ein Jesus trug aber keine Fetzen. Fetzen trugen Bauern, trugen die Bauern des 16. Jahrhunderts. Dürers Bauernbilder geben davon beredtes Zeugnis. Auch Johannes, am Kreuz an der Seite Jesus, trägt zerfetzte Kleidung! Jesus ein Armer, Johannes ein Armer, Bauer wie Armer. Jesus Jünger wie ein Verein proletarischer Jünglinge – wohl auch in zerfetzten Kleidern vorstellbar. Seltener und radikaler hat ein Künstler, ein Maler, Jesus direkt in die Zeit gestellt, in die deutsche Landschaft eingefügt, in die kommende revolutionäre Bewegung des Bauernkrieges vorgereiht. Johannes selbst wird von Weixlgärtner mit Berufung auf Walter Karl Zülch als fränkischer Bauer identifiziert, Maria Lanckoronska sah in Johannes Grünewalds Schüler Franck, wohl aus dem Fränkischen stammend. Johannes wird mit diesem Gesichtsbezug zum Fränkischen, zum fränkisch Aufständischen, zum personalisierten Aufstandsbotschafter. Wohl 1523 oder auch bis kurz vor dem Bauernkrieg gemalt zeigen die Tauberbischofsheimer Tafeln vom revolutionären Up-To-Date-Seins Matthias Grünewald. Seltener hat ein Künstler die Zeichen seiner Zeit auf eine Leinwand gemalt:


„Die Zerfetztheit, nicht nur am Lendentuch des Herrn, sondern auch an der Gewandung seiner Mutter und seines Lieblingsjüngers, zeigt Gothardt schon auf jenem Bild, das wir für sein frühestes, ungefähr 1501 entstandenes, halten, der Baseler Kreuzigung. Sie kehrt auch noch wieder auf der Kreuzigung in Karlsruhe, die zusammen mit der Kreuzschleppung auf der anderen Seite derselben Tafel 1523, 1524 gemalt worden sein mag. Ich habe an andrer Stelle ausführlich darzulegen versucht, daß dieser scheinbaren Äußerlichkeit eine wohlüberlegte Absicht zugrunde lag, daß der Heiland und seine Allernächsten unverkennbar, mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit als das dargestellt werden sollten, was sie ja auch tatsächlich waren, als arme Leute, als Menschen aus den untersten Ständen. Sonst wurden damals, zum Beispiel von Albrecht Dürer, mit zerrissenen Kleidern immer nur die Bauern dargestellt. Gothardt aber steht auf Seiten der Bauern und bekennt sich durch diese Löcher in den Gewandstücken der heiligen Personen auf seinen Bildern vor den wissenden Betrachtern derselben zu dieser Stellungnahme. Er tut dies schon zu Beginn des Jahrhundert, als es in der Bauernschaft bedrohlich zu gären anfing, und tut dies noch, als die Bewegung knapp vor ihrem furchtbaren Ausbruch stand. Wenn Zülch, der Frankfurter, in dem Kopf des Johannes auf dem Bilde den Typus eines fränkischen Bauern erkennt und daran erinnert, daß die Gegend von Tauberbischofsheim, für das ja doch wahrscheinlich die Doppeltafel geschaffen wurde und das unweit, südöstlich von Würzburg gelegen ist, einer der Brandherde des 1525 ausbrechenden Bauernaufruhrs war, so erscheinen uns die beiden Bilder nicht nur künstlerisch, sondern auch als Zeugnisse einer tief einschneidenden Wende im Leben des Meisters Mathis von allergrößter Bedeutung. Sie sind – nach unsrer Meinung – nicht nur die letzten, die er als Dienstmann des Kardinals, wenn auch nicht in dessen Auftrag, ausgeführt hat, sondern auch die letzten, die uns von ihm erhalten sind. 1525 wütet der Bauernkrieg. Wir wissen nicht, wie weit er in die Bewegung verwickelt war, aber daß er mit seinem Herzen auf der Seite der Unterdrückten stand, ebenso wie er für eine Reinigung der Kirche an Haupt und Gliedern eintrat, das haben uns schon seine Bilder verraten. 1526 verliert er seine Stelle als Kurmainzer Hofmaler.“


Arpad Weixlgärtner: Grünewald. Vorwort von Erwin Panofsky. Bibliographischer Anhang von Otto Kurz. Wien, München 1962, S. 106-107



Ein Tauberbischofsheimer Bildprogramm?

Mit gemischten Gefühlen liest man die zu einer Untersuchung zusammen gefaßten Texte von Karl Arndt und Bernd Moeller, da von ihnen ein entschiedener Widerspruch gegen die These kommt, aus der Kreuztragung könnte eine Parteinahme Grünewalds für Luther bzw. für die aufständischen Bauern ausgelesen werden, sie aber in ihrer Schlußfrage nach dem Zusammenhang der Tauberbischofsheimer Tafeln mit den gesellschaftlichen Verhältnissen Tauberbischofsheim zu dieser Zeit doch feststellen, daß dieser Kontext gut zu dieser Stadt und dieser Zeit passen würde. Die bisher ungeklärte Frage nach dem Auftraggeber der Bilder wird neu gestellt und die Vermutung getätigt, dass der unbekannte Auftraggeber ein lutherisch gerichtetes Bildprogramm bei Grünewald für die beiden Tafeln erwartet oder gar bestellt haben könnte: „Jedoch bemerken wir jetzt, dass die beiden Bilder sich in den geschichtlichen Kontext dieser Stadt an der Tauber ziemlich gut einfügen lassen würden.


Schon seit langem ist erörtert worden, ob sich möglicherweise ein Auftraggeber, ein Stifter des Werkes in Tauberbischofsheim namhaft machen ließe. Im Lauf der Zeit sind hierfür eine ganze Reihe von Klerikern aus der Stadt genannt worden, auch mit einer 'Bestellung des Retabels durch den Magistrat' wurde gerechnet. Doch haben sich zwingende Lösung nicht ergeben – es scheint, dass die Frage offenbleiben muss.


Was sich hingegen durch unsere Untersuchungen geklärt hat, ist, dass der Maler, der Luther las und seinem Werk Luthersche Bildmotive, ja wohl ein von Luther inspiriertes Bildprogramm zugrundelegte, in Tauberbischofsheim für diese Ausrichtung der Bilder Resonanz und Verständnis finden konnte. Gemeinschaftliche Gesinnungen Mathis Gotharts jedenfalls mit Führungspersonen in der Stadt sind vorstellbar, ja, die Annahme, das Bildwerk sei aufgrund eines Auftrages aus Tauberbischofsheim entstanden, liegt keineswegs fern. Träfe sie zu, dann hätte der Maler auch wohl Wünsche und Anweisungen zum Bildprogramm von dort empfangen, oder mindestens Anregungen. Auch lässt sich denken, dass die Bilder ihrerseits die religiösen Vorstellungen und Überzeugungen, die damals in der Stadt verbreitet wurden, mitgestaltet und bereichert hatten.


Konkret kamen als Partner des Meisters in Tauberbischofsheim sowohl Geistliche als auch Laien in Frage.“ (Karl Arndt / Bernd Moeller: Die Bücher und letzten Bilder Mathis Gotharts des sogenannten Grünewalds. Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I Philologisch-Historische Klasse. Jahrgang 2002, Nr. 5. Göttingen 2002, Seite 287-289)



Die Tauberbischofsheimer Kreuztragung
als reformiertes Passionsbild

Die Tauberbischofsheimer Kreuztragung verläßt die künstlerische Tradition in Grünewalds Zeit radikal. Neues, noch nie vorher Gesehenes tritt in diesem sorgfältig komponierten, konzipierten Bild auf. Die Renaissance artige Hintergrundarchitektur steht nicht in Jerusalem, sondern bringt Rom als Sitz des Papstes aufs Bild. Die Inschrift aus Esaias 53, also Jesaias 53, „Er ist umb unser sund willen gesclagen“, trägt eine wichtige Interpretationsgrundlage der Komposition direkt auf dem Gebäude des Laterankomplexes, der Kathedrale Romes (Vgl. Maria Lanckoronska, Matthäus Gotthart Neithart. Sinngehalt und Historischer Untergrund der Gemälde. Darmstadt 1963, Seite 222-224). Passend dazu ist die Bekleidung vieler der Schergen mit nahezu purpurroten Farbmischungen, also der Farbe der römischen Macht, versehen. Einer der Schergen ist mit einem einer Mozetta ähnlichen Schulterkragen ausgestattet, dem Kleidungsstück höherer katholischer Geistlicher. Am linken Rand, auf einem Pferd sitzend identifziert Lanckoronska eine Gesichtskarikatur von Papst Leo X., anhand der kurzsichtigen Augen und der hervorspringenden Unterlippe erkennbar. Jesus wird also in Rom geschlagen, vor der päpstlichen Kirche, von päpstlichen Helfern!
Die Tauberbischofsheimer Kreuztragung ein reformiertes Passionsbild, das vom bisher unbekannten Auftraggeber als Bildprogramm mit Grünewald übereinstimmend, konzipiert wurde? Lanckoronska und Arndt/Moeller neigen zu dieser Auffassung! „In jener bibelstarken Epoche der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert bedeutete bereits die Wahl einer Stelle aus dem Propheten Jesaias, der in einer Zeit religiösen Sittenverfalls lebte, eine Parallele zur Gegenwart. Wie Jesaias gegen die religiös-sittliche Entartung seiner Zeitgenossen predigte, so will auch der Auftraggeber der Tafel, ein lutherischer Geistlicher, durch diese seinen Unwillen über die Sündhaftigkeit der Umwelt und ihre Verspottung Gottes zum Ausdruck bringen.“ (Lanckoronska, Seite 222). Auch Arndt/Moeller zielen in die Richtung, daß die Kreuztragung als reformiertes Bildprogramm konzipiert wurde und auch das das Neue dieses Bildes ausmacht. „Dem von Luther eingeforderten gereinigten, keineswegs ja grundlegend neuen Verständnis des Leidens Christi entspricht die von Mathis Gothart komponierte Szene sowohl in dem, was sie zeigt, als auch in dem, was sie eben nicht zeigt! Die Kreuztragung steht uns in einer Umformung vor Augen, die mit der Konzentration auf die schlagenden Schergen das Jesaja-Wort vergegenwärtigt und zugleich alle in der Tradition selbstverständlich gewordenen, die Einfühlung der Gläubigen stimulierenden 'compassio'-Motive konsequent ausschließt. Man darf also festhalten: In kaum zu leugnender Parallele zu dem Sermon von 1519 muss es dem unbekannten Auftraggeber der Tauberbischofsheimer Tafel – und im Einklang mit ihm dem Maler – darauf angekommen sein, ein „reformiertes“ Passionsbild zu konzipieren.“ (Karl Arndt / Bernd Moeller: Die Bücher und letzten Bilder Mathis Gotharts des sogenannten Grünewalds. Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I Philologisch-Historische Klasse. Jahrgang 2002, Nr. 5. Göttingen 2002, Seite 279) Inschrift und Bildkomposition passen also zusammen. Ebenso sind beide Bilder, Kreuztragung und Kreuzigung, als reformierte Einheit ansehbar, als Vorklang zum Bauernkrieg, der als frühbürgerliche Revolution eine christliche Reformation errichten wollte. Der Tauberbischofsheimer Bürgermeister Aichhorn legte nach der Niederschlagung des Bauernkrieges, an dem sich Tauberbischofsheim führend im kurmainzischen 9 Städte Bund im Oberstift beteiligt hatte, einen Rechenschaftsbericht vor, daß es die Absicht der Tauberbischofsheimer war „das heilig wort gotts und ein christlich reformation helffen uffrichten und handthaben“ (Norbert Höbelheinrich, die neun Städte des Mainzer Oberstifts. Ihre verfassungsmäßige Entwicklung und ihre Beteiligung am Bauernkrieg 1346-1525, Buchen 1939; siehe dazu auch Arndt/Moeller Seite 287) Arndt/Moeller spekulieren, dass auch Bürgermeister Aichhorn Stifter des Werkes hätte sein können. Die Tauberbischofsheimer Christliche Reformation, die beiden Tauberbischofsheimer Tafeln Kreuztragung und Kreuzigung hätten damit einen weitaus größeren Zusammenhang als bisher bekannt.



Entstehung der Tauberbischofsheimer Tafeln

Wer gab den Auftrag zur Kreuzschleppung und zur Kreuzigung? Seit wann waren die beiden Bilder in der Tauberbischofsheimer Kirche ausgestellt? Warum gerieten die Bilder in Tauberbischofsheim in Vergessenheit? Diesen Fragen galt das besondere Interesse der Kunsthistoriker. Dennoch gibt es keine eindeutigen Ergebnisse dazu. Wurden die Bilder in der Seligenstädter Werkstatt von Matthias Grünewald gemalt oder vorort in Tauberbischofsheim? Maria Lanckoronska vertritt die klare Ansicht, schon aufgrund ihrer Größe wären die Tauberbischofsheimer Tafeln vorort, also in Tauberbischofsheim, entstanden, wie auch die Grünewaldschen Werke in Isenheim oder Frankfurt: „Die großen Aufträge für Frankfurt am Main, Isenheim, Halle und Tauberbischofsheim sind offenbar jeweils an Ort und Stelle ausgeführt worden, zumal die Auftraggeber jener Zeit es liebten, beratend bei der Gestaltung des von ihnen angegebenen Bildprogramms mitzuwirken. Abt Johannes von Wilnau, Präzeptor Guersi, Kardinal Albrecht von Mainz und der Pfarrer Christoph Scriptoris stehen geistig hinter den in ihrem Auftrag gemalten Tafeln. So ist bereits vom Inhaltlichen her anzunehmen, daß die Werke am jeweiligen Bestimmungsort entstanden. Das wäre auch den technischen Bedingungen gemäßer, da der Transport der großformatigen Tafeln Schwierigkeiten gemacht haben würde.“ (Maria Lanckoronska, Matthäus Gotthart Neithart. Sinngehalt und Historischer Untergrund der Gemälde. Darmstadt 1963, Seite 248-249). Lanckoronska favorisiert den früheren Pfarrer von Tauberbischofsheim, Christoph Scriptoris als Auftraggeber der beiden Tafeln. Da dieser lutherisch beeinflußt auftrat, wurde er 1522 durch Pfarrer Fuchs abgelöst. Dennoch paßt das alles zeitlich noch sehr zusammen. Folgen wir der Annahme eines protestantisch gefaßten Bildprogrammes und Bildwunsches des Auftraggebers an Matthias Grünewald, so erklärt sich auch warum die Bilder nach ihrer Fertigstellung das Interesse der nach der Niederlage im Bauernkrieg nun in Tauberbischofsheim altgläubigen Einflußreichen verloren haben könnten: das protestantisch gefaßte Bildprogramm wurde erkannt, aber nun abgelehnt, sodaß die Bilder nicht zentral, sondern in einer der Seitenkapellen aufgestellt wurden und mit der Zeit immer weniger Beachtung erhielten. „Diese historischen Fakta dürften auch die Begründung für die Entfernung der Tafel von ihrem ursprünglichen Aufstellungsort abgeben, was auch die Ausdeutung der Kreuzschleppung nahelegt. Denn diese Darstellung ist eine einzige zum Himmel schreiende Anklage gegen den entartenden Klerus, der mit seinem Verhalten immer aufs neue die Schuld an der Passion Christi auf sich lädt. Daß ihre religionspolitische Bedeutung damals verstanden wurde, kann keinem Zweifel unterliegen.“ (Lanckoronska, Seite 221) Vielleicht wurden die beiden Tafeln zunächst noch zentral in der Kirche aufgestellt, vielleicht wurden sie auch gleich oder recht schnell nach der Erstellung in die Seitenkapelle transferiert, aus Rücksicht auf die altgläubige Geistlichkeit. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die Bändigung der Taubertäler Geistlichkeit ans kurzmainzische Gängelband noch einige Jahrzehnte nach dem Ende des Bauernkrieges bedurfte, bis auch der letzte reformistische Ansatz vertrieben war und die Rekatholisierung endgültig für die nächsten Jahrhunderte in dieser Gegend gesiegt hatte. Eventuell wurden die Bilder erst nach 1600 in die Seitenkapelle transferiert. „Ebensogut aber könnte die Transferierung auch bald nach der Entstehung stattgefunden haben, um die der altgläubigen Geistlichkeit sicherlich nicht angenehme Rückseitendarstellung unsichtbar zu machen wie denn Oechelshäuser vermeint, daß diese Seite der älteren Generation so gut wie unbekannt geblieben sei.“ (Lanckoronska, Seite 221) Der Zusammenhang eines protestantisch gefärbten Bildprogrammes der beiden Tafeln durch einen Auftraggeber wie Pfarrer Christoph Scriptoris und das Desinteresse der altgläubigen Geistlichkeit wie wohl auch Bevölkerung an den beiden Tafeln ist nachvollziehbar.
Die Tafeln könnten allerdings auch an einem anderen Ort entstanden sein und aus dem Grünewaldschen Nachlaß nach Tauberbischofsheim gekommen sein. „Jedenfalls hat Grünewald, als er 1526/27 in Frankfurt weilt, ein großes (beim Weggang nicht in einem 'Kasten' verschließbares) Bild bei sich, welches im Frankfurter Nachlaß-Inventar nach Zülch (1938, 375) so beschrieben ist: '2 lid an eyn taffel sin wiß bereidt und uff dem einen 1 crucifix, Maria und Sant Johannes'. ... Die Angabe: ein Gekreuzigter zwischen Maria und Johannes trifft nur jedenfalls nur für ein Bild Grünewalds zu: für die Kreuzigung aus der auseinandergesägten Karlsruher Tafel. ... 1528 ist das doppelseitig bemalte Bild im Haus des Seidenstickers Hans von Saarbrücken in Frankfurt. Der gesamte Nachlaß Grünewalds ging nach einem Prozeß im Jahre 1539 auf Mathis' Adoptivsohn Andreas Nithardt über, der 1553 in Frankfurt Lehrer wurde.“ (Eberhard Ruhmer, Anmerkungen zu den Tafeln. In: Matthias Grünewald. Die Gemälde. Köln, London 1958, Seite 127) Die Tafeln wären dann erst später nach Tauberbischofsheim gekommen, wohl in einer Zeit nach dem Bauernkrieg in der die Reformation Tauberbischofsheim allerdings nur kurzfristig wieder erreichte.
Mit der Niederlage im Bauernkrieg ist es wohl in Tauberbischofsheim nicht zu Bilderstürmen gekommen, obwohl ab 1550 die Reformation wieder diese Kleinstadt belangte. Der Tauberbischofsheimer Pfarrer Paulus Jörg gedachte sich zu verheiraten.  Die Grünewaldschen Bilder haben in der Tauberbischofsheimer Kirche im stillen Winkel einer Seitenkapelle die Jahrhunderte überdauert, wohl wenig beachtet, bis sie von einer wenig an ihnen interessierten altgläubig katholischen Geistlichkeit und dem Stiftungsrat 2 mal verschachert wurden und so in die Karlsruhe Kunsthalle kamen. Ein später Sieg des Katholizismus über Grünewald? Tauberbischofsheims größter Schatz wurde zum größten Verlust innerhalb der vielen historischen Verluste, die diese Kleinstadt an der Tauber aufgrund historischer Bindungsschwächen selbst verursachte. Leider verhinderte kein zweiter „Zugelder“, der dem Abriß des Türmerturmes mit einem wirksamen Einsatz entgegenwirkte, die Verschacherung der beiden Bilder.


Literatur: Wilhelm Ogiermann, Tauberbischofsheim im Mittelalter. Urkundenforschung zu Kultur und Geschichte im Zeitraum von 800-1600. In: Stadtverwaltung Tauberbischofsheim, Tauberbischofsheim. Aus der Geschichte einer alten Amtsstadt. Tauberbischofsheim 1955.


Die Tauberbischofsheimer Tafeln in ihrer Zeit

Grünewald in seiner Zeit, in seiner Epoche, von „beiden Seiten betrachten“ will der opulente Katalog zur „Jahrhundert“-Ausstellung zu Grünewald, Karlsruhe 8. Dezember 2007 bis 2. März 2008. Karl Arndt, der sich schon den letzten Bildern Grünewalds in einem Aufsatz gewidmet hat, arbeitet heraus, was Grünewald von anderen zeitgenössischen Künstler unterscheidet, wo die Innovationen Grünewalds sind: „Da ist die so besonders geformte Dornenkrone, da sind die Leidensspuren im Gesicht und die vielen Wunden, die verrenkten Füße, die aufwärts gedrehten Hände und das zerfetzte Lendentuch. ... Der Verstoß gegen das Gesetz des einheitlichen Maßstabs. Wie im Isenheimer Retabel, so überragt auch auf den übrigen Darstellungen Christus die Menschen unter dem Kreuz mindestens um Haupteshöhe. In dem wahrhaft monumental gefassten Karlsruher Bild kommt dieser Unterschied besonders zur Geltung.“ (Karl Arndt, Mathis Neithart Gothart, genannt Grünewald, in seiner Epoche. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.): Grünewald und seine Zeit. Katalog zur großen Landesausstellung Baden-Württemberg. Karlsruhe 2007, Seite 27) Diese Merkmale lassen sich im Gesamtwerk Grünewalds feststellen, wenn auch die Intensität in der Darstellung der Tauberbischofsheimer Kreuzigung ihren Höhepunkt findet. Grünewalds Schaffen und Werken zeichnet sich durch eine unvergleichliche Singularität aus, die ihn deutlich von Dürer, von Cranach abhebt, unterscheidet. Aus welchen inneren Beweggründen kommt diese innovatorische Singularität? Arndt bleibt in seinen Schlußworten leider sehr blaß bei einer „Befähigung, seine Glaubensintensität auf eigene Weise Gestalt werden zu lassen“ (Arndt, Seite 28). In welche Richtung, aus welcher Richtung diese Glaubensintensität geht bzw. herkommt wird nur dünn umschrieben.
Ähnlich unentschieden, nicht festlegend wollend, zeigt sich der Aufsatz von Jessica Mack-Andrick, der Betrachtungen zu den beiden Tauberbischofsheimer Tafeln vornimmt. Für Mack-Andrick ist die Tauberbischofsheimer Kreuzigung ein Werk des Übergangs, das „zwischen altgläubiger Passionsfrömmigkeit und lutherischen Reformgedanken oszilliert“ (Jessica Mack-Andrick: Von beiden Seiten betrachtet. Überlegungen zum Tauberbischofsheimer Altar. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.): Grünewald und seine Zeit. Katalog zur großen Landesausstellung Baden-Württemberg. Karlsruhe 2007, Seite 74) und deshalb der „Versuch einer einseitigen Deutung auch gar nicht sinnvoll“ (Mack-Andrick, Seite 74) ist. Das ist wohl auch nicht der Kernpunkt einer Interpretation der Tauberbischofsheimer Kreuzigung, diese ausschließlich „lutherisch“ geprägt wissen zu wollen, zumal sich die reformatorische Bildtheologie noch gar nicht herausgebildet hatte. Grünewald ist ein Vorbote, ein Künder des Kommenden und es kam nach der Entstehung der Tauberbischofsheimer Kreuzigung schnell. Im Kommenden, nicht in der Ausarbeitung eines vollständig gestalteten reformatorischen Bildprogramms ist Grünewald verstehbar. Zudem sollte die drastische Steigerung in der Bildsprache der Tauberbischofsheimer Kreuzigung zeitaktuell genommen werden. „Es ist meines Erachtens schwierig, eine ausschließliche lutherische Prägung für die Tauberbischofsheimer Tafel nachzuweisen, die ein Werk des Übergangs darstellt und zwischen altgläubiger Passionsfrömmigkeit und lutherischen Reformgedanken oszilliert. Vielleicht macht es gerade diese epochale Zwischenstellung so schwer, das Werk eindeutig zu interpretieren.“  (Mack-Andrick, Seite 74)


Zurzeit Grünewalds war die Bildersprache für einen Eingeweihten lesbar, Jahrhunderte der Vergessenheit, des Nicht-Verstehens folgten, erst Joris-Karl Huysmans fundamentale Interpretation öffnete wieder den Zusammenhang zur Reformation und zu den bäuerlichen Schichten. „Manche Autoren deuteten Grünewald Bildersprache, ihren Verismus und ihre Drastik, als Ausdruck der Theologie Luthers oder gar als Plädoyer für die Bauern, woran die Bildbeschreibungen durch Joris-Karl Huysmans nicht ganz unschuldig gewesen sein dürfte. Sein Diktum vom 'Christus der Armen' trug mit dazu bei, dass man bei Grünewald sozialreformerische Intentionen vermutete und sein Eintreten für den Bauernstand auch an seinen Kunstwerken ablesen wollte.“ (Mack-Andrick, Seite 73) Dagegen hält Max Adolf Vogt besonders die Tauberbischofsheimer Kreuzschleppung und Kreuzigung in Pinselschrift geformte Konfession und Bescheid auf Luthers Thesen, die sich gerade in diesen Spätwerken manifestieren. Trotz einer langen Verbindungslinie von Gemeinsamkeiten zwischen in der Darstellungskunst Grünewalds in allen seinen Werken tritt in den Spätwerken Grünewalds reformatorisches Bekenntnis hervor. Es sollte nicht übersehen werden, „daß Grünewald uns eine vollkommen klare Auskunft über seinen religiösen Standort und Denkkreis hinterlassen hat: im Spätwerk, an den Karlsruher Tafeln der Kreuzschleppung und der Kreuzigung und in der Aschaffenburger Beweinung, der letzten uns bekannten Arbeit des Malers. Diese in Pinselschrift geschriebenen Zeugnisse sind, genauer als man es wahrzunehmen und für wahr zu halten pflegt, theologische Konfession, keineswegs im Ungefähren bloßer Gestimmtheit verbleibend – insofern Bescheid auf Luthers Thesen und Teilnahme an der religiösen Auseinandersetzung der Epoche.“ (Max Adolf Vogt, Grünewald. Mathis Gothart Nithart. Meister gegenklassischer Malerei, Zürich und Stuttgart 1957, Seite 22) Die Tauberbischofsheimer Tafeln Kreuzschleppung und Kreuzigung, das Spätwerk Grünewalds – gemalte theologische reformatorische Konfession und nicht zu überlesender Vorschein der frühbürgerlichen Revolution.