Büschemer Geschichtchen  - G'schichdli I

 

Nicht große Geschichte, sondern Geschichtchen werden hier wiedergegeben. Also auch von meiner Person. Ein retrospektiver Rückblick in die 1960er und 1970er Büschemer Kinder- und Jugendzeit. Mit gelegentlichen Einsprengseln in die 1980er. Sehr subjektiv. Nicht immer ungeschönt. Eine Zeit des Umbruches. Eine Zeit der Modernisierung Tauberbischofsheims. Die Anfänge modernerer Zeiten. Die auch Schattenseiten hatten. Diese Geschichtchen sollen sich dem Wesen des Büschemers an sich widmen. Seine Besonderheiten hervorkitzeln. In diesen Büschemer G'schichdli.

 

 

 

Bei der Gräfin Milchholen mit gelegentlichem Scheitern  

 

Milch wurde früher bei der Gräfin geholt. Mit der Milchkanne. Drei Liter passten da rein. Anfangs ging man noch am Trampelpfad entlang der noch offenen Edelberghohle, später wurde die Edelberghohle verdolt. Mit Betondeckel drauf. Die Gräfin, also die Inhaberin namens Graf, war ein kleiner Lebensmittelladen. An der Ecke Julius-Berberich-Straße / Albert-Schweitzer-Straße, wie man auf einmal die alte Würzburger Straße anfing zu nennen. Dort holte man die offene Milch. Schleuderte die Milchkanne während des gesamten Heimweges. In einer Kreisbewegung. Permanent. Immer beschleunigter. Bis nach Hause. Im Sommer ging man durch Hof und Garten in Richtung Balkontür. Immer noch die Milch in Kreisbewegung schleudernd. Da die Treppe zum heimischen Balkon hoch eine sehr unregelmäßig mit verschiedenen Steinplatten organisierte war, kam man hier manchmal ins Stolpern. Und schwupps. Verringerte sich die mit gebrachte Milchmenge deutlich. Endete die kreisende Schleuderbewegung der Milchmasse abrupt. Lobensworte waren in dieser Situation kaum zu erwarten.

 

In den 1960er und Anfangs der 1970er Jahre gab es in der „Oststadt“ noch einige kleinere Lebensmittelläden. In der Schlacht, Ecke Weickstr. / Kachelstr. Und Ehmann zog vom Marktplatz in die hinterste Kapellenstr. bzw. in das dortige Wohngebiet. Und es gab noch Erbacher und Ascher auf dem Brenner. Etwas größere Läden. Und dann kam noch der Löwenmarkt. Mit zwei Etagen schon etwas besonderes, da es Läden mit zwei Etagen in der Kleinstadt sonst nicht gab. Weiter oben auf dem Brenner war auch noch eine kleine Filiale. Eine Metzgerei. Irgendwann kamen noch Main-Kaufhaus und Schöpflin-Hagen dazu. Mit mehreren Etagen. Die kleinen Lebensmittellädchen verschwanden mit der Zeit. Erbacher wurde zum Supermarkt. Zu einem kleinen. Samstags um 12 Uhr rum war der Laden voll. Da bald Ladenschluß war. Man konnte kaum seinen Rausch am Samstag ausschlafen. Da es sonst nichts zum Essen gab. Mit dem Aufkommen der großen Supermärkte leerte sich der Erbacher.

 

 

 

 

Brotbeißer  

 

Ein echtes Highlight war es beim Erbacher frisches Brot zu kaufen. Da gab es schon beim Fortgang Ermahnungen der Mutter. Die halfen nichts. Beim Heimlaufen mit dem frischen Brot wurde dieses immer angeknabbert. An beiden Seiten. Da gab es keinen Widerstand. Das musste sein. Und schmeckte gut. Frisches Brot essen war bei der Mutter verpönt. Erst musste das alte noch übrige gegessen werden. Es gab von ihr die Behauptung, von frischem Brotessen bekommt man Magenschmerzen. Bis heute die schöne Sitte beibehalten, frisches Brot vom Bäcker gleich anfangen zu kauen. Auch wenn noch Reste vom alten vorhanden sind. Bauchschmerzen habe ich bis heute noch nicht davon bekommen.

 

Als Kinder kannte man noch das feinste Brot vom Uissigheimer Bäcker. Auch immer frisch gegessen. Da konnte man Städter – Frankfurter - einkaufen sehen, die den Uissemer Bäcker als Geheimtipp kannten. Das war noch eine wunderschöne Backstube im Dorf. Gerne hielt man sich dort auf. Und aß frisches Brot. Stets ohne Magenschmerzen.

 

 

 

 

 

Willibald die Hose knallt  

 

Willibald, die Hose knallt. So hieß es beim TSV Fussball. Wenn Willibald Schröder, in wärmeren Jahreszeiten immer in Lederhosen, um die Ecke kam. Er war einfach immer da, wenn es in Büscheme um den Fussball ging. Besonders dem Jugendfussball. Wohl über 50 Jahre lang. Die Fussballer hatten im hinteren Bereich der Festhalle, gegenüber dem Schwimmbad, ein zweizimmriges Loch mit Duschen. Samstags, Sonntags bei den Wettspielen wurde es hier besonders eng. Ein Raum war nun für die Gästemannschaften. Einer für die TSV’ler. D. h. mehrere Mannschaften zogen sich hier um, besonders eng war es, wenn zwei Mannschaften gleichzeitig sowohl auf Hartplatz als auch auf dem Stadionrasen spielten. Da wurden Klamotten übereinander gehängt, Schuhe verschoben. Man hatte seine Schwierigkeiten, seine sieben Sachen wieder zu finden. Für Willibald war es einfacher. Der hatte fast immer seine Lederhosen an. Und kümmerte sich um Bälle, Trikots, Tornetze. Die TSV Trikots der damaligen Zeit sahen noch sehr ärmlich aus, mit Bendel um den Brusthalsbereich zum Zuschnüren. Im Umkleideloch zog man sich auch um, wenn man zu Auswärtsspielen fuhr und der dortige Verein kein Sportheim hatte. Oder keinen Raum zu Umziehen. In Wittighausen, Sonderriet zog man sich eine Zeitlang in einer Waschküche um. In eiskalter.

 

Willibald, bei dem die Hose knallt, war Jugendleiter des TSV’s. Er erlebte also die große Zeit des Büschemerischen Jugendfussballs noch mit, die in den 1960erJahren, den späten, zu vielen Kreismeisterschaften führten. Als wichtigsten Gegner Viktoria Wertheim. Die Spiele in Bestenheid hatten immer einen proletarischen Reiz, da man hier ein geschlossen auftretendes Abeitermilieu mit ungarischer Würze beobachten konnte, das man so aus Tauberbischofsheim nicht kannte, und einen doch sehr interessierte. Dann wurde man auch noch führend im Odenwald-Main-Tauber-Bereich.

 

Heute liegt der TSV-Jugendfussball etwas danieder. Ohne höhere Weihen. Der erste Fussballplatz war auf einer Wiese. In der Nähe der ehemaligen Gärtnerei Czinder. Dann folgte einer in der Bachflur. Und dann kam der Platz an der Festhalle. Inzwischen wandern die Fussballplätze in Richtung Dittigheim weiter. Mitte der 1920er Jahre war der Büschemer Fussball sozialdemokratisch beeinflußt. Das sei abseits noch bemerkt. 

 

 

 

 

Wassertreten auf dem Wörtplatz

 

Der Wörtplatz, früher eher eine Ansammlung von Schotter, festgestampfter Erde und löchrigen Unebenheiten, war zur Winterzeit, bei festem Regen nicht leicht zu überqueren, um in Richtung der in den 1970er Jahren errichteten Holzbrücke zu kommen. Die Stadtväter, die Stadtverwaltung, wer auch immer, kamen überein, den Platz zu urbanisieren, zu asphaltieren. Allerdings ohne Ausgleich der Unebenheiten. Damit entstand ein Pfützenmeer, teilweise mit riesigen Pfützen. Für einen eher Nachtblinden wie mich ein Wasserdesaster. Immer rein in die Pfütsche. Während die Begleiter sich einen feixten und auf die trockenen Stellen hüpften. Bei mir: Platsch. Platsch. Platsch. Die Schuhe durchnässt.

 

 

 

 

Kindergemeinheiten

 

In der Schlacht gab es zu meiner Kinderzeit einen sogenannten „Schüttler“. Also einen Kriegszitterer, der an posttraumatischen Störungen litt. Immer bekleidet mit einer Baskenmütze. Wenn Kinder sein Zittern nachahmten, konnte der „Schüttler“ durchaus böse werden. Und schnell herankommen. In der Kinderzeit war man noch mit vielen Kriegsversehrten konfrontiert. Mit Einarmigen. Einbeinigen. Rollstuhlfahrern. Kopfverletzten. Man spielte zwar oft Krieg. Sah aber, dass Krieg nicht Folgen los blieb. Auswirkungen hatte. Flüchtlinge waren ja auch ein Teil des Alltagslebens. Man hörte fremde Dialekte um einen herum. Deren Kinder assimilierten den büschemerischen Dialekt allerdings sehr schnell. Während die schlesischen Omas, stigmatisiert mit dunkler Tracht, stimmlich immer einem fremd blieben. Das war ein ganz anderer Klang. Als den man sonst hörte und kannte. Im Schwimmbad legte ein körperlich Beeinträchtigter des Krieges immer seine Kunstbeine ab. Robbte auf den Oberschenkelstumpfen ins Wasser. Und schwamm eher wie ein UBoot eingetaucht unentwegsam, unermüdlich seine Bahnen. Über den „Schüttler“ hörte man, dass er im Krieg lange Zeit verschüttet gewesen sein soll. Näher kam man ihm nicht. Man blieb in einiger Entfernung.

 

 

 

Die Henker

 

Fassnacht. Eine schöne Zeit. In der man maskiert durch die Stadt streifen konnte. Beim Wurstschnappen der Büschemer Kröten sich sättigen konnte.Und auch noch kostenfrei in der Festhalle ein Raboll bekam. Diese schöne Zeit endete aber schnell, wenn man im Stadtraum, meistens Unterstadt, einem Henker begegnete. Mit Henkersmaske. Mit Peitsche. Immer älter als man selber. Und auch kräftiger. Das war besonders problematisch. Da man schnell gefangen genommen wurde. Bedroht wurde. Terrorisiert wurde. Ungestraft. Das waren halt die Henker aus der Dörgei. Die Unterstädtischen. Gewaltsame. Da wurde die Verkleidung fast in kleinkrimineller Weise ausgenutzt. Immer wurde einem etwas abgenommen, das man bei sich trug. Man war froh, wenn man zwei wertige Sachen dabei hatte und der Henker sich mit der schlechteren davon zufrieden gab. Folgenfrei war die Henkerei. Für die Henker. Den Erwachsenen war das wohl egal. Kindersache. Egal wie brutal diese Henkerei vor sich ging. Eine wohl nur kurzzeitige Erscheinung im Tauberbischofsheimer Faschingswesen. Eventuell kommen mit den heutigen Halloween-Inszenierungen die Henker in Tauberbischofsheim wieder mal in Mode.

 

Schade dass nichts schriftliches über dieses fastnachtliche Henkerunwesen vorhanden ist. Es wäre ein wichtige kleinstadtsoziologische Aufgabe, über die Henker Auskunft zu geben. Was waren die Gründe dazu sich den Henkern anzuschließen? Die Motive. Wie setzten sich die Henker schichtenmäßig zusammen? Woher kam das Vorbild? Was waren die Leitmotive? Welche Konflikte traten auf? Wie sahen Erwachsene diese faschingskulturell getarnte Terrororganisation der Henker? Viele Fragen, keine Antworten. In der Stadtgeschichte, in Betrachtungen zum Büschemer Fasching liest man nichts davon. Als ob es die Henker der Fassnacht nie gegeben hätte.

 

 

 

 

Trinkhalle Giller als Wille und Vorstellung  

 

Beim Giller, beim Kiosk Giller, bei der Trinkhalle Giller, einem kleinen, allein stehenden Kiosk an der Tauberbrücke, Ostseite, gegenüber dem Gasthaus Taubertal, heute spurlos dem Erdboden gleich gemacht, war eine wichtige Station des Wechsels vom einem Stadtteil zum anderen. Wenn die alte Oma Giller den Verkauf managte, gab es Versuche, aufgrund ihrer Sehschwäche, auch Mark und Pfennig ähnliche runde Gegenstände zur Bezahlung einzureichen. Im Vorfeld des Kiosk waren auf beiden Seiten Ständer aufgereiht. Ein reichhaltiges Angebot an Zeitungen, Fix&Foxi, Perry Rhodan, Kicker, Fussballwoche, Konkret, Jasmin, Pardon und so. Ende der 1960er Jahre zogen auch erotische, eher pornographische Blätter in die Ständerfächer. St. Pauli Nachrichten. Auch die UZ gab es. Nationalzeitung. Bayernkurier. Abendblätter, die es längst nicht mehr gibt.  Aber auch Zeitschriften, auf denen plakativ Underground aufgedruckt war und das persönliche Interesse weckten. Die meisten Zeitschriften und Hefte waren schon vom längeren Aushang angegriffen. Die Tüten mit einklebbaren Bildern von Fussballern wurden hier gekauft. Nach dem Fussballtraining trank man gern hier noch eine kalte Cocacola. In späteren Jahren auch gern mal ein Bier. Zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung dazu. Wenn ein Spaziergang an einem kalten Wintertag anstand auch gern ein Fläschlein Jägermeister oder Sechsämter. Das half auch, wenn die erste Mannschaft des TSV’s sonntags zuhause antrat und der Spielverlauf wenig her gab. Der Giller war durchaus frequentiert, wenn auch im Innenraum nur wenig Platz war. Da kamen nur Spezialgäste rein. Man konnte gut beim Giller herumstehen. Einige standen fast immer dort. Die Toilette wurde in der Natur gesucht. Wenn Bedarf war. Ebenso spärlich war der Parkraum. Was sich dann gegenüber den neu aufkommenden Tankstellenshops als nachteilig erwies und zum Ende des Gillerschen Kiosks führte. Als Kunde laut wurde, dass der Giller abgerissen wurde, traf man sich im Hammel, um die Gründung eines Vereins zur Erhaltung der Trinkhalle diskutieren. Ein gut besuchtes Treffen. Diskutiert wurde unter anderem das Thema der Trinkhalle Giller als Wille und Vorstellung. Anektoden wurden eingebracht. Reichlich getrunken wurde dazu. Der Abend war legendär. Blieb legendär. Blieb einmalig. Die Trinkhalle wurde abgerissen. Und ist jetzt leider nur noch reine Vorstellung. Ein Besuch der Trinkhalle Giller war auf jedenfalls in den 1960er, 1970er und 1980er Jahre büschemerische Pflicht. Nun Stadtgeschichte.

 

 

 

 

Drei-Klassen-Cafe Tauberperle

 

Eine der büschemerischsten Gaststätten aller Zeiten. Die Tauberperle. Hier wurde in der Königsklasse residiert. Als Kind war die Tauberperle ein absolutes Plus und Muß, da hier als Eis Waldmeister präsentiert wurde. Jahrelang war ja diese Sorte aus Eisdielen verbannt. Inzwischen eine wunderbare Wiederkehr dieser wohl deutschesten Eissorte. Die Tauberperle war Samstag oder Sonntags Nachmittags eine wichtige Anlaufstation. Zum Karten spielen. Als Speise wurden Schinkenplatte oder Hawai Toast aufgetragen. Gern wurde hier Wein getrunken.

 

Die Tauberperle hatte eine sehr interessante räumliche Ordnung. Wir klassifizierten diese als Drei-Klassen-System. Es gab drei unterschiedliche Räume. Im Eingangszimmer, die Theke mit dem Wirt und der Wirtin, Familie Baumann, und einem kleinen Tisch für Gäste erster Klasse. Also nur Einheimische, mit dem Wirt eindeutig Bekannte. Der zweite Raum war der für uns. In dem wir stets Platz nahmen. Der dritte Raum war für die dritte Klasse. Also fremde Gäste. Von auswärts. Aber auch für eher gesellige Treffs von irgendwelchen Frauenvereinigungen. Oder so.

 

Der Wirt, Paul Baumann, agierte gern vor seiner Tauberperle. Als Abfangjäger. Da diese im vorstädtischen Gefüge und Betrieb etwas abseits stand. Seinem aufmerksamen Blick entging kein potentieller Gast. Der durch die Bahnhofsstrasse, Museumstrasse, Schmiederstrasse kam, oder am Sonnenplatz vorbei. Mit dem Ruf „Komm doch rein“ wurden die Gäste animiert. Dabei klimperte der Gastwirt stets mit Kleingeld in der Hosentasche. Wir brauchten keine solche Animationen. Wir kamen von selbst. Gern auch am Dienstag. Zum Stammtisch. Vom Wirt mit dem Ruf „Weinen, die Herren?“ begrüßt. Wie immer bejaht. Schon servierte der Wirt uns jeweils ein Viertel Wein. Wir konnten allerdings nie erfahren, um was für einen Wein es sich handelte. Den suchte der Wirt souverän alleine ohne Mitsprachrecht der dienstäglichen Stammtischgäste aus. Ohne weitere Nachfrage. Er schmeckte stets gut. Und verlangte nach mehr. Drei Viertel waren eigentlich für den Stammtisch die Norm. Der Wirt verstand es aber gut, gern noch einen weiteren zu servieren. Und klimperte mit seinem Kleingeld in der Hosentasche dazu. Einer geht noch, einer geht noch rein. Morgens stand allerdings noch Arbeiten an. Das begrenzte den möglichen Konsum. Rein theoretisch betrachtet. Oder erschwerte morgens die Arbeitsfähigkeit.

 

Die Tauberperle hatte auch noch andere Stammgäste. Während der Schulzeit verließ ein Lehrer gern den Unterricht, um mal schnell mit dem Auto runter zur Tauberperle zu fahren, einen Kaffee zu trinken und den Spielautomaten zu füttern. Selbstverständlich nachdem er vorher an uns in der Schulklasse rechnerische Aufgaben verteilt hatte, die zu lösen waren. Fünf Minuten vor Unterrichtsschluß kam er wieder an, der Automat in der Tauberperle gut gefüttert, lief ohne Pause weiter, und sammelte die Aufgaben wieder ein. So sah also die Residenzpflicht der Lehrer in den frühen 1970er Jahren aus. Als der Wirt sein Cafe aufgab, übernahm wie fast vorhersehbar die Sparkasse das Grundstück und reihte es in sein Immobilienimperium ein. So verschwand die Perle des Taubertals. Mit ihr ein wunderschönes kleinstädtisches Drei-Klassen-System.

 

 

 

 

Büschemer Raub der Individualität  

 

Als Kinder müssen die Büschemer Kinder einen das kindliche Selbstbewusstsein der eigenen Person nahezu vernichtenden Spruch über sich ergehen lassen. Genauer eine Spruchfolge zweier Sätze. Die reichen. Um einen nieder zu machen. Klein zu halten. Kleinstädtisch-gesellschaftlich zu verorten, einzubunkern. Immer spricht ein Älterer, ein Erwachsener diese negierenden zwei Sätze aus. Und hat damit immer die Lacher auf seiner Seite. Der Besprochene ist immer der Verlierer. Der über den gelacht wird. Mit Kindern hat man leichtes Spiel. Als Erwachsener. Spricht ein Büschemer Erwachsene ein Kind an, meistens innerhalb einer Gruppe von anderen Büschemern, ist der Lacherfolg garantiert. Und die einseitige Rollenverteilung. Wer über wen lacht. Über wen gelacht wird. Der Erwachsene wendet sich mit dem Spruch „Wem ghörsd denn du?“ an das Kind. Dieser antwortet meistens völlig eingeschüchtert, eingedämmt in den traditionalisierten Büschemer Verhaltenskult, auf büschemerische Weise mit dem Vor- und Nachnamen des Vaters. Darauf kommt die schallende Retourkutsche „So siehst du auch aus.“ Und schon lachen alle Umstehenden. Über das Kind. Das dumm herumsteht. Blamiert ist. Total blamiert ist. Ein echter Büschemer Klassiker. Kinder innerlich wund zu machen. Der hat sicherlich über Jahrhunderte funktioniert. Und wurde nie sanktioniert. Das Kind, ist derjenige, über den man lacht. Über den sich andere amüsieren. Die Schwaben vernichten nicht die zart keimende Persönlichkeit des Kindes. Bei Ihrem Situations ähnlich bedingten Spruch: „Was bischt denn du für oaner?“ bleibt Platz für das Individuum. Für die zarte Seele des Kindes. Die Büschemer Gewalt, die sich in dieser Spruchfolge widerspiegelt, ist brutal, und vernichtend.

 

Als ich in meiner Ausbildungszeit in einem Ingenieur-Büro auf dem zu einem Baugebiet werdenden oberen Brenner bei Vermessungsarbeiten unterwegs war wandte sich trotz meines über achtzehnjährigen Alters ein alter Büschemer Eingeborener an mich mit dem Spruch „Wem ghörsd denn du?“ an mich. Ich bekam einen ungeheuren Lachanfall und wälzte mich auf dem Brennerboden. Es war kaum zu fassen. Diese alten Büschemer! Bleiben ihrem Trott bis ins Grab treu. Der Alp der Tradition lastet auf ihren Gehirnen. Wie Bäärendreck. Der verwunderte Alte bekam dann noch seine Antwort. Auf die gehabte Büschemer Weise. Wußte dann, wohin er mich einordnen konnte. Trotz längerer Haare. Wie sie halt damals modisch waren. Der kultische Ritus aber war gebrochen. Dazu trug auch die Modernisierung der büschemerischen Lebenswelt bei. Die Verortung von Personen in einem allen bekannten engen kleinstädtischen Lebens und Verhaltenskreis wurde durchbrochen. Der Spruch. Die beiden Sprüche verloren ihren Bann.

 

 

 

Lachnit

 

Defekte Schuhe wurden zum Lachnit gebracht. Zur Reparatur. In die Schlacht. In seine Werkstatt. Dazu musste man immer an seinem Auto vorbeigehen. Das immer mit einer Plane bedeckt in der Garage stand. Schöne ältere Maschinen warteten in der Werkstatt auf einen. Der Üssemer Opa war ja im Winter nicht nur Bauer, sondern auch Schuhmacher. Daher kannte man das Schusterhandwerk aus eigener Anschauung. Der Schuhmacher Lachnit klärte einen dann auf, welche Maßnahmen der Reparatur er ergreifen wird. Die Schuhe bekamen dann einen Zettel mit dem Familiennamen drauf. Den der Schuster meistens auch selbst schon durch frühere Gänge zu ihm wusste. Abholen musste man die Schuhe allerdings nicht. Die brachte Schuhmacher Lachnit direkt ins Haus. Per Fahrrad. Auf dem Gepäckträger eine alte abgenutzte lederne Tasche. In der die Schuhe transportiert wurden. Der Meister kassierte dann auch noch sein Entgelt. Und machte sich dann wieder davon. Zurück in die Schlacht. In seine Werkstatt. Vorbei an seinem unter einer Plane stets verborgenen Auto.

 

 

 

 

Augenbrauen wie ein Vordach

 

In der Grundschulzeit, da ging es noch in den Klosterhof, der damit eine Jahrhunderte alte Schultradition an dieser Örtlichkeit fortsetzte, gab es noch Lehrer von altem Schrot. Wie der Lehrer Bauer. Ein Bastler. Dafür gab es im Klosterhof auch einen eigenen Werkstattraum. In dem wir Drachen, noch mit dünnen Holzleisten, Transparentpapier, Schnüren bastelten. Aber auch ein Flurgänger. Durch die bunten Wiesen, Haine, Raine. Mußten wir streifen. Und Namen von Blumen aufsagen. Imposant waren seine nahezu unendlichen Augenbrauen. Augenbrauen wie ein freischwebendes Vordach. Aufgetürmt. Nach vorne und nach oben aufgewallt. Aufgebauscht. Hoch wie der Höhberg. Wenn es regnete konnte Lehrer Bauer darunter im Trockenen stehen. So lästerten wir. Über den Alten.

 

 

 

Dreschplatz und Rostplatz  

 

Als Kinder nutzten wir in der Oststadt die noch vorhandenen vielgestaltigen, naturnahen und besonders dysfunktionalen Freiräume zum Spielen. Also Räume, die nicht einer bestimmten Nutzung unterworfen waren. Sondern angeeignet werden konnten. Für das Kinderspiel geeignet waren. Noch war nicht jedes Grundstück überbaut. Noch gab es viele interessante Spielangebote. Eines dieser sehr differenzierten Spielangebote war der Dreschplatz. Der zunehmend seine Funktion des Dreschens verlor. Da immer mehr Mähdrescher aufkamen, die diese Funktionen direkt auf dem Feld erledigten. Leider findet man inzwischen immer weniger alte Dreschhallen wie die in Bürgstadt am Main. Der Dreschplatz war die heutige Clausingstraße. Daneben war ein offenes Lager für Stahlmatten, T-Träger, Betonstahl. In Tauberbischofsheim wurde ja damals überall gebaut. Zusammen mit seiner Frau werkelte der Versbachnachfolger Holler hier herum. Bog oder schnitt die Matten, Stähle und Träger zurecht. Statt in einem Blaumann in einem stets rostig-schmutzigen Graumann. Und transportierte die Eisenwaren an die Baustellen. Wir kannten und erkannten ihn nur an seinem Rost. Eine andere Kleidung haben wir nie an ihm gesehen. Selbst Sonntags. In der Unterstadt hatte er noch ein Geschäft für Eisenwaren. Den Versbach. Auch heute noch ein wunderschönes Fachwerkhaus. Mit einem Schuhmacher drinnen. Als das evangelische Gemeindehaus mit Kindergarten dorthin zog, war es mit diesem Spielplatz aus. Die Matten zogen entgegengesetzt in eine Wiese an der Königheimer Straße, Nähe Sägewerk Meyer. Auch in späteren Lebensjahren konnte ich ab zu noch die rostbraunige Kleidung im Einsatz bemerken. Der Dreschplatz als Clausingstraße wurde asphaltiert. Wurde zum Parkplatz vor dem Kindergarten. Der Rostplatz wurde Kindergarten und eingezäunter Grünbereich. Nicht mehr offen für alle Kinder, nur noch für bestimmte. Monofunktionalität übernahm hier das Raumregime.

 

So wichen in der Oststadt zunehmend immer mehr offene Kinderplätze Orten der Nichtmehrnutzbarkeit. Schleichwege wie die an der Edelberghohle verschwanden. Der wilde Garten der ehemaligen Landfrauenschule an der Würzburgerstraße /Julius-Berberich-Straße gehörte dann dem übernehmenden Vermessungsamt und der Grundschule Ost, die darauf errichtet wurde. Die Hänge zum Brenner hoch, ehemals Weinberge mit noch vorhandenen Trockenmauern wurden Privatbesitz. Und nicht mehr für Kinder zugänglich. Kein Wunder, dass heutzutage die Gärten, auf den Grundstücken mit Kind oder Kindern, immer mehr künstlich in Abenteuerspielplätze verwandelt werden. Immer mehr Spielgeräte im eigenen Garten aufgestellt werden. Das Umherstreifen im Nahraum immer mehr kontrolliertem Spielen auf dem eigenen Grundstück weicht. Das sorgsam behütete Kind der Mittelschicht, des Mittelstandes, kennt keine Dresch- und Rostplätze, kein freies Spielen mehr. Darf sie nicht kennenlernen. Kann sie nicht mehr kennenlernen.

 

 

 

 

Hausmeister Mahrhofers ökologischer Sündenfall

- mit der Kakaomilch fing alles an

 

Die Grundschule wurde von uns oststädtischen Schülern noch in den Räumen des ehemaligen Klostergebäudes absolviert. Zur körperlichen Stärkung bekamen wir ab und zu mal zehn Pfennig mit, um ein Glas Milch während der großen Pause zu erwerben. Hinter der Liobakapelle, vormalig Elisabethkapelle, war dem Klosterinnenhof zugewandt eine Milchsammelstelle. Solange es noch genügend Bauern in der Stadt gab. Was nicht mehr lange der Fall war. Aufhören. In die Industrie gehen. Aussiedeln waren hier die Parolen. Vor dem Gebäude der Milchsammelstelle waren die Milchkannen aufgestellt. Für uns als grundige Schüler ein willkommenes Eroberungsgebiet. Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass auch mal auf die Kannen gestiegen wurde. Seltener kam es vor, dass mal der Deckel der Milchkanne nachgab und ein Bein in der Milchkanne versank. Dann machten wir uns schnellstens aus dem Staub und verschwanden in der anonymen Schülermasse auf dem Klosterhof. Starke Konkurrenz zum Glas Milch war das Angebot, das der Hausmeister präsentierte. Kakaomilch aus der Verpackungstüte. Einiges teurer als das Glas Milch. So dass schon einige Glas Milch gespart werden mussten, um an die Kakaomilch heranzukommen. Die schmeckte halt sehr gut. Süß. Das leere Glas gaben wir wieder zurück. Noch ohne Pfand. Die leere Verpackung wurde weggeworfen. Unter dem strengen Auge des Hausmeisters, der auch die Klosterhoffläche reinigen musste, in den Papierkorb. Außerhalb dessen Augenradius auch mal daneben.

 

Der Gedanke an das ökologischere Produkt wurde anfangs der 1960er Jahre sowieso noch nicht gestellt. Auch nicht an Müllvermeidung. Wenn auch zunehmend die Haushalte vor das Problem von anfallendem Müll gestellt wurden. Waren wurden zunehmend in Verpackungen gesteckt, die man im eigenen Haushalt nicht wiederverwenden konnte. So fingen die Büschemer an, Müll weg zu werfen. An Grabenränder, in Löcher, am Waldrand, Raine, Haine, Klingen. Der Büschemer Müllplatz Richtung der Flur Neuberg, Kühruh war auch noch keine sortierte Mülldeponie, wie sich heute die Müllstätten präsentieren, nicht abgedichtet. Müllteile, Müllreste flogen weit im hinteren Bereich des Büchelberges herum. Gummireifen wurden noch abgebrannt. Was dunkelste Rauschschwaden ergab. Mit Hausmeisters Mahrhofers teuerer Kakaomilch fing also nahezu initial und paradigmatisch die Büschemer Abfallbeseitigungsproblematik an. Jedenfalls für uns Grundschüler im Klosterhof.

 

 

 

 

Flippern mit der NPD  

 

In den 1970er Jahren gab es in Büscheme noch richtig gute Büschemer Wirtschaften. Nicht modern. Halt büschemerisch. Älter. Etwas vergangen. Die Wandvertäfelung abgenutzt. Von Büschemern frequentiert. Das weiße Ross. Der Hammel. Grüne Baum. Schwanen. Ritter. Sonne. Engel. Krone. Badischer Hof. Die Sonne war noch kein Pizza Pie. Sondern eine Gastwirtschaft in der man gern eine Halbe trank. Oder gar einen Stiefel. Gemeinschaftlich. Die Sonne hatte auch ein Nebenzimmer. Eines Tages lud die NPD Mitte der 1970er zu einer Versammlung ein.

 

Um 1969 versuchte die NPD ein größeres Comeback im Taubertal. Der NPD Parteitag wurde in Wertheim durchgeführt. In Büscheme outeten einige Büschemer Bäcker, Zahnärzte ihr rechtes Bewusstsein. Und kandidierten. Adolf von Thadden, der Parteivorsitzende, wurde im September 1969 auf dem Tauberbischofsheimer Sonnenplatz erwartet. Er kam nicht. Er wäre empfangen worden von einer durchaus stattlichen Anzahl von Schülern des Matthias-Grünewald-Gymnasiums. So auch von mir. Im Proteste vereint.

 

Erst Jahre später wagte die NPD in Nebensaal der Sonne ein Comeback. Mit einem weit auswärtigen Redner. Der kein G aussprechen konnte. Sondern immer nur mit J. Also statt Gäste Jäste sagte. Nur wenig rechtes Publikumspotential war anwesend. Und das vor allem aus Dertingen angereist. Einer Hochburg. Und das trotz einer aufwendigen Dorfsanierung. Dorferneuerung. Der Dertingen unterworfen wurde. Nicht immer bestimmt das Sein das Bewusstsein. Vollständiger versammelt war das, was als Büschemer alternativer Scene zusammen gefasst werden konnte. Da der Vortrag trotz der auffallenden sprachlichen Spezifikation Jäste, in die der Vortragende auch die Büschemer Linksalternative freundlich einschloß und ansprach, und immer mehr bei Wiederholung zur allgemeinen Erheiterung beitrug, im eher hölzern-altväterlichen Stil gehalten wurde, wurden die im Nebensaal vorhandenen Flipperautomaten, da nicht abgeschaltet, zur weiteren Ausgestaltung des Abends genutzt. Und erzeugten eine enorme Geräuschkulisse in die Monotonie des Vortrages. Immer mehr waren die Flipper von der Menschenmasse umringt, während der Vortragende immer mehr in die Leere des Raumes sein Jäste sprach. Ankämpfend gegen den Sound der Flipper. Dem Gehämmer auf die Tasten und die Verglasungen der Flipperapparate. Und dem Gejohle dabei. Irgendwann gingen dann die Jäste der NPD. Die NPD feierte diesen Abend als großen Erfolg, da soviel Personen wie noch nie anwesend waren. So im Bericht an die Parteizentrale vermeldet. Es blieb ein peripherer Erfolg. Es konnte kein zweites Mal mehr mit der NPD geflippert werden. In der Sonne. Im Nebensaal.

 

 

 

 

Sou änn Deihenker!  

 

Das hörte man in seiner Kindheit öfters. In Büscheme. Vom Vadder. Nicht von Darth Vader. So richtig wusste man gar nicht was ein Deihenker überhaupt war. Trotz aller Wiederholung dieses Namens. Deihenker. Sou änn Deihenker. Erklärt wurde einem auch nicht, was ein Deihenker darstellt. Warum man mit Deihenker tituliert wurde. Dass es etwas tief Büschemerisches ist, war einem schon klar. Und dass es etwas zu bedeuten hatte. Vermutlich etwas Negatives. Schlimmes. Denn meist kam der Deihenker heraus, wenn man etwas kaputt gemacht hatte, aufgemuckt hatte. Oder so. Das konnte man leicht mit dem Bösen in Verbindung bringen. So kam man Fitzelchen für Fitzelchen der signifikanten Deutung des Deihenkers in einem selbst näher.

 

Neben dem Deihenker trat auch noch ein Verweis an die Innung auf. Gern auch in Kombination. Meist im sprachlichem Zusammenhang. „Sou änn Deihenker. Da muss man sich ja vor der Innung schämen!“ Auch hier trat wieder eine Unklarheit auf. Was für eine Innung denn? Wie setzt sich diese zusammen? Was habe ich mit dieser Innung zu tun? Muss ich vor diese Innung treten? Als Deihenker womöglich? Fragen über Fragen. Die das kindliche Bewusstsein durchaus überforderten. Da Antworten ausblieben. Der Deihenker und die Innung sind das, was auf schlecht Büschemerisch das Schloß und den Prozeß bei Kafka ausmacht. Heutzutage müssen sich die Büschemer Kinder vor dem Deihenker nicht mehr fürchten. Die Bezeichnung als Deihenker kennt kaum noch einer. Fast überhaupt keiner. Und auch keiner setzt sie mehr ein. Schon gar nicht mit der Innung zusammen. Der Deihenker ist fort. Und kehrt wohl nicht wieder zurück. Nach Büscheme.

 

 

 

 

Beichte gehe  

 

Zu den auferlegten kindlichen Pflichten gehörte es, in die St. Martinskirche zur Beichte zu gehen. Die St. Bonifatiuskirche war ja noch nicht an der Kapellenstraße hinbetoniert worden. Möglichst regelmäßig und in kurzen Abständen sollten wir gehen. Als ob wir nichts anderes zu tun hatten. Dazu sollte eine Art innerliche Erforschung betrieben werden. Die nicht gelang. Die sich nicht einstellen wollte. Man merkte bei einem selbst eine fehlende Einkehr in die nötige, erwartete Innerlichkeit. Statt dessen bewahrten wir unsere alten Beichtzettel auf, auf denen wir Sündiges festhielten, damit der Beichtpriester auch zufrieden war. Nicht zu wenig gebeichtet wurde. Wir waren ja generell als Büschemer Sünder verdächtig. Und damit er uns entsprechend büßen lassen konnte. Meistens musste im Bußakt irgendetwas heruntergeleiert werden. In stetiger Wiederholung. Da die innere Einkehr schwer fiel, variierten wir das Sündenregister des vorherigen Beichtzettels und kombinierten die zu beichtenden Sünden mit einigen neuen, möglichst harmlosen Einfällen. Die Nutzung von Textbausteinen nahmen wir Jahrzehnte weit vorweg.

 

Ganz wohl war uns da nicht. Uns war auf büschemerisch-katholische Weise ein sehr strafender Gott eingebleut worden. Kein vergebender, liebender. Sondern einer der alles wusste. Noch schlimmer. Alles voraus wusste, was wir tun würden. Es wäre alles schon wie in einem Buch festgeschrieben. Von der Speicherkraft, Verarbeitung von Daten mit Computern hatte man da noch keine Vorstellung. Da mußte in der Angstmachung noch statisch ein besonders dickes Buch herhalten. Nicht wir würden agieren. Wir würden das schon längst Aufgeschriebene ausführen. Nicht Subjekt waren wir. Getriebene. Pures Objekt des schon längst vorher Feststehenden. Determinierte. Da taten wir uns mit unserer Bearbeitung und Vorbereitung von Beichtzetteln doch etwas hart. Schwerere Sünden versuchten wir auszublenden und beichteten liebe andere, leichtere dafür. Uns war eingetrichtert worden: Eine Beichte, bei der nicht alles korrekt gebeichtet würde, wäre ungültig. Vor Gott. Es drohte eine nachträgliche umso kräftigere Strafe. Auch wenn wir den Beichtpriester vorübergehend zufrieden stellen konnten.

 

Das trieb uns in philosophische Frühbetrachtungen über Sein und Nichts. Um diesem übermächtigen strafenden Gott zu entkommen. Ob es einen Anfang der Welt ohne einen Gott geben könnte. Führte schon im kindlichen Alter zur Erkenntnis, dass auch aus Nichts Etwas werden könne, dass das Nichts ein Noch-Nicht von Etwas tragen könne. Die katholisch-büschemerische Ausübung von Religion fraß ihre eigenen Kinder. Förderte eine innere Emigration. Auch wenn der äußere Schein noch einigermaßen aufrecht erhalten blieb.

 

Als Beichtstühle bevorzugte man diejenigen, die in der Nähe der leider schlechten Kopie der Grünewaldschen Kreuzigung standen. Wenn man den mit ekligen Flecken, häßlichsten Wunden übersäten Leib Jesus sah, sah man, dass man mit seinen Leiden, wenn auch eher inneren, nicht allein war. Im Beichtstuhl angekommen, leierte man seine Sündensammlung ab. Möglichst leise, damit nichts nach außen drang. Von seinen Sünden. Von seinen sündigen Textbausteinen. Pech hatte, wer an einen schon schwerhörigeren Beichtvater geriet. Und laut seine Sündensammlung vorzulesen hatten. Draußen auf den harten Kirchenbänken feixten sich dann alle eins, wenn sie die laut vorgelesene Sündenlitanei mithören konnten. Manchmal waren da ganz gute Einfälle an Sünden darunter. Die man auch selbst brauchen konnte. Manchmal war auch vom Beichtpriester zu hören: „Das brauchst nicht zu beichten. Das sind doch keine Sünden!“ Das war nur Füllmaterial auf dem Sündenzettel. Um etwas Sündenvolumen voll zu bekommen. War man mit den auferlegten Busseexerzitien aus dem Beichtstuhl entkommen, rollte man auf der Kirchenbank kniend sein Pflichtbußprogramm sich permanent wiederholender Verse ab. Zum einen froh, dass kein göttlicher Blitz in die nicht ganz so korrekte Bußpraxis eingeschlagen hatte, man davon gekommen war. Zum anderen hatte man die Sündenübung erneut hinter sich und konnte endlich hinaus. Ins Freie. Neuen Sünden entgegen. Wir waren ja alle schuldige büschemerische Kinder. Sündige Büschemer. Die vorhergesehene, festgeschriebene Sünden ausübten. 

 

 

 

 

Baumännischer Fassonschnitt

 

Als Kinder der Oststadt hatten wir auferlegte Verpflichtungen. Die unsere Freiheit, Freizeit stark begrenzten. Mitarbeit im Garten, Haushalt, Obstwiese an der Tauber, Opa Essen bringen, war selbstverständlich. Dann gab es auch noch Pflichttermine wie Fahrrad und Schuhe putzen. Fast wöchentlich. Auch der Friseurbesuch gehörte zu diesen Terminen, die die eigene persönliche Anwesenheit erforderten. Haarschneiden wurde in der Stadt beim Friseur Baumann Ecke Marktplatz / Hauptstrasse / Manggasse exekutiert. Es gab in den frühen 60er Jahren nur die Auswahl Fassonschnitt oder Stupfelruß. Beim Fassonschnitt blieben ein paar längere Haare ganz oben übrig. Der Stupfelruß oder Mecki war Haarkürzen auf 1 Millimeter Länge. Beim Friseur hatten wir es ganz und gar nicht eilig, auf die alten, hölzernen Stühle vorzurücken. Wir machten es uns gemütlich im Wartebereich. Schließlich war das ja der eigentliche Grund, warum wir unsere Haarlänge opferten. Im Wartebereich lagen Mickeymouse-Hefte aus. Die wir uns vornahmen. Panzerknacker 671-176 first! Wenn der kürzungswillige Friseur, eine schon etwas ältere Version eines in Dittwar Wohnenden, den Nächsten zur Exekution vorrief, schüttelten wir nur den Kopf und hoben demonstrativ das Mickeymouse-Heft höher vor unseren Kopf. Als ob wir nicht angesprochen wären. Obwohl wir schon längst an der Reihe waren. Erst erledigten wir die angenehme Kür, dann die schwere Pflicht.

 

Waren wir mit den ausgelegten Heften fertig, dann erst durfte uns der ältliche Friseur vornehmen. Wir erstiegen den Friseurstuhl. Und wurden nach weiter oben befördert. Per Drehung des Holzstuhles. Als wir etwas kindlich gesehen älter waren, wurden wir per Pedalenfußtritt hydraulisch erhöht. In die Reichweite der Friseurhand und –werkzeuge. Zunächst wurde uns eine Art Schmirgelpapier um den Hals gezerrt. Das nützte recht wenig vor dem Abfall der gekürzten Haare in unseren Halskragen, Halsbereich hinein. Dann verschwand der Körper vollkommen unter einem Umhang. Nun war man völlig der Gewalt des Friseurs ausgeliefert. Zunächst musste man die Art der Frisur angeben. Wir nannten immer Fassonschnitt. Obwohl wir nicht richtig wussten, wie man das Wort schrieb, und was das eigentlich für eine Frisurart war. Aber hier blieb mehr dran als beim Stupfelruß. Und es gab keine weitere Auswahl. Wir kannten auch keine. Der ältliche Friseur unter Umständen auch nicht. Zäher war die Konversation mit dem Friseur. Meistens war es ein vom Friseur vorgegebenes Thema, über das er dann selbst lachte. Oder es war eine Frage an uns, auf die wir etwas kurz angebunden antworteten. Der Friseurakt war halt nun mal nicht ein Tempel bürgerlicher Bildungskonversation, sondern ein Ort der Kürzung. Wir waren vom Mickeymouse-Konsum ja durchaus gesättigt und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Und benötigten ja nur die Dienstleistung, und nicht das Gespräch. Mit einem Rasierapparat wurden wir hinten und an den Seiten kräftigst geschoren. Nur ganz oben blieb spärlich etwas übrig. Einige längere Haarstreifen. Was die Essenz des Fassonschnittes war. Zum Abschluß wurden wir mit einer Art Parfüm besprüht. Was sich gut machte, da wir als Kinder eher noch selten badeten. An der Kasse stand der Inhaber. Auch nicht mehr der jüngste. Hier gaben wir das für die Exekution mitgegebene Geld ab. Für den Friseur selbst, dem ältlichen, hatten wir 20 Pfennig mitbekommen als Trinkgeld. Das wir dem Friseur in seine Arbeitsmanteltasche steckten. Der Dibbermer Friseur fuhr immer mit dem Motorrad - 50er Zündapp - und einer altertümlich wirkenden ledernen Haube über dem Kopf zur Arbeit. Und auch nach Hause zurück. 

 

Als wir älter geworden, weitaus seltener als früher zum Friseur Baumann gingen, wiederholten wir die alte Masche. Erst Mickymousehefte, dann die Exekution. Die Konversation mit uns wurde indes noch schwieriger. Da wir inzwischen in völlig anderen Welten unterwegs waren, als der immer noch ältliche Friseur. Irgendwann gaben wir das Friseurgehen völlig auf. Mickeymouse verlor zudem unser Interesse. Wir wandten uns anderen Lesestoffen zu.

 

 

 

 

Büschemer Frankenbad  

 

Für Kinder war im Sommer das Schwimmbad eine wichtige Anlaufstation. Die Umkleidekabinen enthüllten mehr als sie vor den Augen anderer versteckten. In die dünnen Holzpappe ähnlichen Wändchen waren schon viele Löcher vertieft und ermöglichten den Durchblick. Auf den Badehosen waren bei manchen Jungs Abzeichen aufgenäht. Die Auskunft über die Länge des Schwimmvermögens gaben. Ein aufgenähter Totenkopf würde eine Stunde andauerndem Schwimmens bedeuten. Man bekam nie einen Totenkopf auf die Badehose genäht. Es reichte nur zum Fahrtenschwimmer.

 

Das Schwimmbadkiosk, eine hölzerne Baracke, hatte zentrale Funktion für uns Kinder. Vanille Langnese-Eis am Stiel, Süßigkeiten, Brausepulver, Tüten mit kandierten Nüssen, Heinerle Wundertüten. Aber besonders gab es dort in der Wundertüte versteckt billig Comichefte mit Sigurd, Tibor, Nick zu erstehen. Heute eher teuere Sammlerexemplare. Damals verschleudert.

 

In pubertäreren Jahren war das Schwimmbad eher Ort erotischer Sehnsüchte. Bedürftig starrte man frühreiferen Mädchen nach. Die allerdings schon etwas ältere Verehrer hatten. Vom Rand des Schwimmbades durfte nicht gesprungen werden. Auch heute noch nicht. Der Einmeter- und der Dreimeter waren meistens geschlossen. Aufgrund der schwimmenden Kindermassen. Das Wasser, da ungeheizt, war kalt. Der Bademeister gab deshalb bei den Angaben über die Wassertemperatur, auf einer Kreidetafel verzeichnet, einige Grade dazu, um sein Publikum nicht zu verschrecken. In späteren Jahren sprang man kurz mal ins Wasser, schwamm ein paar Runden und trank am Kiosk ein paar Bier. Da saßen immer einige herum. Das ist auch heute noch so. Meistens fuhr man mit dem Fahrrad ins Schwimmbad. Wenn man Pech hatte, war bei der Heimkehr der Reifen platt, das Ventil geklaut. Dann schob man das Rad traurig nach Hause. Wenn Samstags Nachmittags Fußballspiele anstanden, bestand der Trainer darauf, dass man vorher nicht ins Schwimmbad ging, da dies müde machte. Das erklärt im Nachhinein einige höhere Niederlagen. Seine sieben Sachen packte man in einen Matchsack. Also Badetuch, Trockentuch, Badehose. Unter dem Badetuch versteckte man auch seine wertvolleren Sachen: Schlüssel, Brille, das wenige Geld, das man dabei hatte. Schließfächer gab es nicht.

 

Der Titel des Schwimmbades Frankenbad imponierte. Sonst hörte man immer nur Taubergrund, Taubertal als regionale Umgrenzung. Nun ein Schwimmbad für ganz Franken. Das imponierte. Als in Lauda ein Schwimmbad eröffnet wurde, entdeckte man schnell im Vergleich, dass das Büschemer Bad doch eher etwas von einfachster Gestaltung war. Weniger hergab als Schwimmbäder an anderen Orten. Als Jugendlicher merkte man immer mehr die Eintönigkeit des Schwimmbades und reduzierte die Aufenthaltsdauer. Langeweilekultur war nicht mehr angesagt. Jedenfalls keine, die sich über mehrere Stunden hinwegzog. Entkeimt wurde das Wasser des Frankenbads kräftig mit Chlorzusätzen. 1984, bei der großen Brehmbachüberschwemmung, wurde das Frankenbad stark beschädigt. Und deshalb kräftigst erneuert. Der altmodische Charme des 1951 errichteten Nachkriegsbades ist seitdem wesentlich abgemildert.

 

 

 

 

 

 

 

Hoch zum Brenner

 

Den Brenner hoch. Das ist durchaus eine gewisse Kraftanstrengung. Eine Höhenbesteigung. Die Alte Würzburger Straße hoch – heute Albert-Schweitzer-Straße. Mit unseren kindlichen sehr einfachen Fahrrädern ohne Gangschaltung nicht ohne Schieben möglich. Oder über die Kachelstraße den Hang hoch. Noch war nicht alles privatisiert und eingezäunt. Oder bei der neueren Würzburger Straße den sogenannten Zick-Zack-Weg hoch.

 

Um sich diese Kraftanstrengung zu ersparen sah man einen Büschemer am Feierabend stets ab der damaligen Aral-Tankstelle Esser am Straßenrand stehen. Hoch zum Brenner wollend. Aber mitgenommen hoch werden wollend. Er bewegte sich kaum noch vom Fleck weg. Immer auf Lauer. Immer auf der Aussicht, einen Bekannten oder Nachbarn zu entdecken. Der ihn hoch auf den Brenner mitnehmen würde. Die Zeit schien für ihn still zu stehen. Keine Rolle zu spielen. Gern schauten wir ihm dabei zu. Vom Giller aus. Auf den Mäuerchen sitzend, die die Gründerzeithäuser in diesem Bereich boten. Immer gespannt, ob es ihm auch dieses Mal gelingen würde, mit hoch auf den Brenner genommen zu werden. Wir freuten uns kräftig, wenn das nicht auf Anhieb gelang. Hatte er mal einen Schritt weiter in Richtung Brenner tun müssen, schaute er umso energischer auf die Autos, die Richtung Brenner fuhren. Und manchmal schüttelte er auch unwillig den Kopf. Über die Ungerechtigkeit, nicht hoch auf den Brenner mitfahren zu können. Man kannte von Brenner-Vätern den fluchenden Ausspruch „Jetzt steht der schon wieder da!“ Weil das immer auch hieß, anzuhalten im dichten Verkehr, ihn einsteigen zu lassen, mitzunehmen, und zu Hause auf dem Brenner auszusetzen. Aber fast immer gelang es ihm, mitgenommen zu werden. Er hatte einfach eine zu große Ausdauer. Mit seinem Ausstehenpotenzial. Am Straßenrand. Mit seiner unglaublichen Fähigkeit, Nachbarn und Bekannte erkennen, erfassen und zuwinken zu können. Zum Anhalten zu bewegen. Um hoch zum Brenner zu gelangen.

 

 

 

 

Sauerkraut, Mostäpfel, Erdbeeren  

 

Die Kindheit war begleitet von naturnaher Eigenproduktion von Lebensmitteln. Im eigenen Garten, auf unserer Obstwiese an der Tauber, fast bei Impfingen, in den Gartengrundstückchen, die noch dem Opa gehörten - wohl genauer betrachtet der Büschemer Oma -, an der Laurentiusbergstraße, Weickstrasse, auf den vereinzelten Grundstücken auf dem Büchelberg. Andere Grundstücke wie am Wellenberg wurden zunehmend von Häusern überbaut.

 

Im eigenen Garten wurden Krautsköpfe angepflanzt. Zur Bewässerung wurden wir herangezogen. Und ordentlich angewiesen, wie zu begießen sei. Die Krautsköpfe zogen wir mit einem kleinen Ziehwägelchen in Richtung Stadt, in die Blumenstraße zum Löhr. Dort reihte sich schon Ziehwägelchen auf Ziehwägelchen. Krautsköpfe auf Krautsköpfe. Büschemer auf Büschemer. Ein damals typisch büschemerisches Bild. Ein Bild, das darauf verwies, nicht zu den Kuhbauern zu gehören. Sondern selber ziehen zu müssen. Kleinbäuerliches Milieu. Meine Mutter, die eigentlich aus einer Kuhbauernfamilie stamme, also nicht selber ziehen musste, war ob der büschemerischen Ziehkultur etwas pikiert. Und schickte gern uns Kinder zum Krautsköpfschneiden vor. Beim Löhr wurden die Krautsköpfe geschnitten und in die mitgebrachte Wanne, die auf dem Ziehwägelchen stand, eingeworfen. So zogen wir wieder nach Hause. Im Keller war ein Krautstämpfer, in den das geschnittene Kraut gelagert wurde. Es war immer ein besonderer Schmaus, aus dem Krautstämpfer Sauerkraut zu holen und zu naschen.

 

Erdbeeren wurden nahezu massenhaft produziert. In vielen Doppelreihen. Wir mussten gießen und pflücken. Da war schon mal von unserer Freizeit im Sommer ein großer Teil täglich weg. Einige Nachbarn und auch Erbacher nahmen unsere Erdbeeren ab. Das Geld dafür bekam die Mutter. Die so eigene Einnahmen hatte. Auch Kirschen wurden an Nachbarn und Erbacher abgesetzt. Himbeeren wurden entlang von Drähten gezogen. Da diese eng aneinander gereicht waren, waren unsere Ärmchen permanent aufgeritzt. Dafür wurden wir mit selbst gemachten Himbeersaft belohnt. Aber erst nachdem wir beim Entsaften mitgeholfen hatten. Unser Garten war halt noch ein richtiger bäuerischer Nutzgarten. Mit vielen Blumen und wenig Rasen. Selbst ein Frauenschuh wuchs. Nur der Platz zum Wäschetrocknen hatte einen dürftigen Rasen und der Bereich unter dem Apfelbaum. Der trug gute saftige Äpfel mit einem leicht saurem Geschmack. Der Baum war vom Opa mit zwei verschiedenen Sorten gepfropft worden. Eine derartige Apfelsorte habe ich allerdings nicht mehr seitdem gegessen. Nachdem der Baum einen Pilz bekommen hatte und sich verabschiedete.

 

Am Ende der Büschemer Gemarkung, fast bei Impfingen, aber auf der linken Tauberseite, hatten wir eine Obstwiese. Zu der zogen wir mit unserem großen Ziehwagen. Da passte einiges an Kisten, Werkzeug darauf. Meistens zogen wir mit. Ab dem Ende der Tauberbegradigung in Richtung Impfingen wurde der Weg wesentlich schlechter. Und man musste mehr Kraftaufwand beim Ziehen aufbringen. Die Mostäpfel, aber auch Mostbirnen wurden aufgelesen, gepflückt, mit dem Apfelbrecher heruntergeholt. Das waren halt noch Hochstammarten. Da musste man noch hoch hinaus. Allerdings mussten die Obstbäume auch immer wieder geschnitten werden. Was wir später stark vernachlässigten. Die Wiesenpflege wurde dann einem Impfinger Bauern überlassen, der irgendwann dafür seine Schafe einsetzte.

 

Solange wir noch eine eigene Kelter hatten, wurde noch selbst Most, Apfelsaft gemacht. Der schmeckte köstlich. Die Kelter stand in der Waschküche. Diese Obstkultur, diese Bearbeitung ließ immer mehr nach. Nicht nur bei uns. Sondern auf der ganzen Büschemer Gemarkung. Wie es sich leicht bei Spaziergängen feststellen lässt. Oft sieht man auch bei den Pflückern auf den Obstwiesen an den Autos nichteinheimische Autoschilder. Dann holen die Erben, die nicht mehr in Büscheme wohnen, die Obsternte ab.  

 

Sauerkraut kommt nicht mehr aus dem Sauerkrautstämpfer, sondern aus der Dose. Grünkohl wurde auch im eigenen Garten angepflanzt. Der wurde dem Wirsching beim Kochen beigegeben. Wir motzten immer über die Farbe des Wirschings und wollten nicht richtig deswegen zugreifen. Mit dem Grünkohl wurde alles kräftig grün und wurde nun ohne Aufstand gegessen. Mit ähnlichen Tricks wurde Fleisch längere Zeit in Essig eingelegt und uns dann als Rehbraten serviert. Wenn das eigentliche Reh für die sechsköpfige Familie nicht ausreichte. Das kindliche Auge ißt halt mit und wurde einfach ausgetrickst. Meine Mutter und ihre Mutter, meine Uissemer Oma, hatten noch umfangreiche Kenntnisse über die Kraft der Kräuter, der Pflanzen. Meine Oma mit ihren weißgrauen Haaren hatte immer für mich etwas von der Magie von Weißen Frauen. Von alten Kräuterhexen. Auf alle Fragen - genauer Beschwerden - hatte sie das richtige Kräutlein. Jedoch war diese alte vormoderne Weisheit stark ins katholische eingebettet. Kein Widerspruch mehr. 

 

 

 

 

 

Büschemer Geschäfte

 

Geschäftsläden gab es in Büscheme einige. Das waren meist noch Inhaber geführte Läden. Mit beschränkter Verkaufsfläche. Und eingeschränktem Angebot. Ein Laden wie der Mainhardt (Jetzt Uhren-Hahn) dagegen suggerierte mit seiner Aufmachung unserem kindlichen Gemüt, alles zu haben. An allen Wänden gab es Schubkästen, in denen das Benötigte, das wir im Auftrag der Mutter zu besorgen hatten, auch vorhanden war. Die Mutter verlangte sowie eher nach dem Gewöhnlichen, dem des häuslichen Bedarfs Entsprechenden, als Ungewöhnliches. Auf all diese Wünsche hatten die Verkäuferinnen im Mainhardt eine Antwort. Uns Kindern erschien dieser Laden als Antwort auf alle Fragen. Auf alle Wünsche. Bedarfe. Als das perfekte Warenhaus. Nie gingen wir ohne das Gewünschte nach Hause. Beim Mainhardt ging es allerdings ja nicht um unsere kindlichen Wünsche sondern um Knöpfe, Nadeln, Borde, Gummibänder usw. 

 

Ein Gang durch die Hauptstraße, entlang der kleinen Läden war immer eine zähe, langsame Angelegenheit. Als Kinder konnten wir unsere Nasen an den Fensterscheiben noch platt drücken. Als ob das Wünschen immer helfen konnte. Eher selten bekamen wir das von uns selbst Gewünschte. Geld war halt sehr knapp in den Kinderzeiten. Der Spielwaren Hoffmann war so etwas wie unser Paradies. Da konnten wir die Märklin-Eisenbahn Schachteln anschauen. Mit den Loks, Waggons. Meistens mussten wir uns mit dem Kauf der günstigsten Waggons begnügen. Oft auch von Rocco. Bahnhofsgebäude, Häuser, Tankstellen wurden von Faller gekauft und zusammengeklebt. Meistens entstand auf der Platte, auf der die Eisenbahnlandschaft aufgebaut wurde, eine kleine idealisierte Kleinstadt, eher ein Bahnhof mit Dorf aufgrund der wenigen Gebäude. Die Verkäuferinnen beim Spielwaren Hoffmann waren allerdings nicht besonders geschult, mit uns jungem Einkaufspotenzial umzugehen. Die waren eher ungeduldig, erpicht uns möglichst schnell aus dem Laden hinaus zu bekommen. Wir dagegen wollten die Warenwelt voll auskosten, auch wenn wir nicht das nötige Kleingeld hatten. Und vor einem Kauf auch möglichst viel sehen, berühren. Leider führte Spielwaren-Hoffmann keine Wiking-Autos. Ein sehr großer Mangel. Die sahen wir meistens bei Spielwaren-Burger in Bad Mergentheim bei sonntäglichen Spazierfahrten. Da war der Laden allerdings verschlossen. Und wir konnten uns nur die Nasen an der Fensterscheibe platt drücken. Und keine Sehnsüchte erfüllen. Hier zeigte sich eine tendenzielle Abwanderung zum Einkauf in Würzburg ab. 

 

Der Weipert war ein kleinster Laden Ecke Hauptstraße / Schlossplatz. Hier wurden uns vom Inhaber Briefmarken vorgelegt. Auf die Theke. Er hatte auch verpackte Briefmarken. In größeren Einheiten. China. DDR. Also eher Masse als Klasse. Aber hier bekam man für sein weniges Geld halt mehr. Quantität. Das zählte auch für uns. Beim Vitztum hingen geschlachtete Hasen an einem Haken an der Außenwand. Die Ästhetik des Warenanbietens war hier eine sehr besondere. Bäcker Mohr mußte uns seine leckeren Amerikaner herausrücken. Metzger Hofmann speiste uns mit einem Ringel Fleischwurst ab. Damit wir still hielten. Oder wieder kamen. Bei der Bäckerei neben Textil Lang erhielten wir ein aus einer Schokoladentafel herausgebrochenes größeres Stück. Hieß doch Rollo Schokolade? Allerdings nicht umsonst. Mußten wir bezahlen. Zigarren-Baumann war für Zeitungen, Hefte, Comics zuständig. An Weihnachten schenkten wir dem Vater hier von uns ausgewählte Zigarillos. Viel mehr fiel uns nicht ein. Im Gegensatz zu unserem eigenen Wunschkatalog. Klamotten für uns wurde bei Lang, Schimpf, Kosak, Messler ausgesucht. Wenn man nicht irgendwoher gebrauchte bekam. Zunehmend fuhr man wegen der größeren Auswahl nach Würzburg. Die meisten Schaufenster eines Geschäftsladens hatte in der Unterstadt, am Anfang der Stadt der Keilwirth. Gardinen, Möbelteile und so. Für uns Kinder also eher uninteressant. In der Stadt gab es einige kleinere Elektrikläden. Dem Keilwirth gegenüber auf der anderen Seite war der Wachter. Kassetten für den Kassettenrekorder wurden hier gekauft. Aus Chrome, um das Rauschen von der Musik wegzubekommen. Was nicht gelang. Die ITT-Geräte von Wachter kamen mit Chile 1973 in persönlichen Bann. Beim Schuh-Prößner war das Lurchiheft für uns wichtiger als die neuen Schuhe. Die ja die Eltern auswählten.

 

Beim Buch-Stein trat man in einen ziemlich voll gepackten ums Eck gehenden Laden. Meistens Schulbedarf. An der religiösen Erbauungsliteratur war man nicht interessiert. Dafür fand man aber Carlheinz Gräters Weinwanderungen an der Tauber im Regal. Da konnte man schon ganz andere Töne lesen. Das weckte das persönliche Interesse. So etwas wollte man auch mal irgendwann hinbekommen. Beim Bürobedarf-Schäfer war ab und zu die Sounds zu kriegen. Die fand man 1970 noch ziemlich undergroundig. Und passend. Jefferson Airplane. Frank Zappa. Van der Graaf Generator. King Crimson. Soft Machine. Prog-Rock war angesagt. Neue Klänge. Mit der Sounds und im eigenen Musikgeschmack fühlte man, dass man den kleinstädtischen Horizont überschritt. An einer globalen fortschrittlichen Bewegung teilnahm. Man hatte etwas, das man nicht mit den Eltern teilte, das diese nicht verstanden, gefunden. Elektro-Mause, in einem einfallslosen moderneren Gebäude, gegenüber Bauer Berberich, hatte auch eine kleine Plattenabteilung, die wir regelmäßig durchforsteten. Die Schallplatte kostete allerdings damals noch stolze 22 Mark. Eine große Ausnahme war das wunderbare, damals weit unterschätzte Island-Album von King Crimson. Das White-Album der Beatles 40 Mark. Let it Be mit Filmbuch hatte ebenso einen erhöhten Phantasiepreis. Da musste man schon monatelang Geld zusammen sparen, um endlich die Platte in seine Hände zu bekommen. Kein Wunder, dass man bald zum Montanus-Laden in Würzburg überlief oder zu dem aufkommenden Plattenversand Zweitausendundeins. Und die kleinstädtische Warenwelt verließ. Den Inhaber geführten kleinen Geschäftsläden drohte zunehmend die Gefahr, die Kundschaft zu verlieren. Beim Buch-Buschler bestand auch ein Überangebot an katholischer Literatur. Aber immerhin hatten sich die Taschenbücher von Suhrkamp dort eingeschlichen. Brecht, Hesse. Thomas Bernhard. Waren erhältlich. Speziellere Literatur wurde dann in Würzburg erstanden. Auch hier konnten die Inhaber geführten Läden nicht auf die erweiterten Bedürfnisse der Kundschaft reagieren. Vom Inhaber vorgefilterte Literatur reichte nicht mehr aus. Die Geschäftsläden hatten zwar zunehmend reagiert, und die Stufentreppen vor dem Laden entfernt, damit ein ebener Zugang ins Geschäft möglich war. Leider auch zunehmend die Schaufenster verändert, vergrößert. Beim Angebot zeigten sich aber Mängel.

 

Die Konkurrenz in der Stadt veränderte sich. Löwenmarkt und Schöpflin-Hagen hatten größere Verkaufsflächen. Auf zwei Etagen, was es ansonsten in der Kleinstadt nicht gab. Wenn man die unterschiedlichen Höhen der Böden in Inhaber geführten Geschäftsladen unberücksichtigt lässt, wie beim Schreibwaren-Kremer. Da musste man im Geschäft selbst Treppchen steigen, ohne allerdings in eine andere Etage zu gelangen. Mit dem Main-Kauf-Haus zog ein neuer Glanz kapitalistischer Warenwelt in Büscheme ein. Mit Tiefgeschoss, Erdgeschoss und erstes OG. Im zweiten OG gab es ein Restaurant. Und  es gab Aufzugstreppen. Hier fand man schon mehr. Wenn man auch nach einigen Jahren feststellte, nicht genug. Immerhin gab es auch dort Schallplatten. Sogar importierte. Wie das amerikanische 2nd Album der Beatles. Da konnte man im Gegensatz zu den Platten, die man hatte, andere Mixe feststellen. Man bekam eine Ahnung, dass es auch Alternativen zum Vorhandenen geben kann. Das Geschäftszentrum der Kleinstadt, das lange Zeit die Inhaber geführten Läden waren, ist seitdem in der Krise. Und es ist bisher noch keine Antwort im innerstädtischen Bereich darauf gefunden worden. Leerstand macht sich breit. Die Oberstadt ist fast nur noch eine Einkaufswüste.

 

 

 

 

 

Geditscht-Werden und Gefangene der Brennerstadt-Kinder

 

Als kleine Knöpfe spielte man noch mit Klicker. Also Murmeln. An den schief getretenen Steinplatten, in tiefer gesenkten Fugen fand man die Ziele, worauf man seine Klicker rollen ließ. Auf andere Murmeln ditschen ließ. Also am Marktplatz beim Grässl, am Rathaus unter den Bögen. Verlor man das Spiel gegen ein anderes Kind, dann musste man eine Murmel hergeben. Das war besonders traurig, wenn es eine neue, schöne Murmel war. Die man erst kurz zuvor bekommen hatte. Kinderspiel war Anfangs der 1960er Jahre noch Spiel im Draußen. Wir zogen schon als kleinste Knöpfe selbständig herum. Unbeaufsichtigt. Autos fuhren da noch ganz selten. Auch die Straßen selbst waren noch Spielfläche. Fußball, Federball, Völkerball. Spiele ohne großen Aufwand und Organisation. Tore wurden mit kleinen Stecken markiert. In Külsheim war man ja aufgrund verwandtschaftlicher Verhältnisse noch öfters in der Kindheit. Dort sah man noch Kinder mit Lederpeitsche und hölzernem Kreisel auf der Straße spielen. Das gab es in Büscheme schon nicht mehr. Da viel gebaut wurde, waren die Baustellen für uns Spielbereiche. Sand sowieso. Die Edelberghohle beim Block, noch offen, war allerdings schon fast ein Gefahrenbereich. Da in der Tankstelle, in der Werkstatt wohl eher fahrlässig mit Öl hantiert wurde. Die Sohle der Edelberghohle war ein übles Gemisch aus Matsch und  Öl. Durch das wir mit unseren Kinderstiefeln watschelten. Unbebaute Grundstücke, die es auch in der Oststadt noch gab, und auf denen die bäuerliche Bearbeitung aufgegeben war, dienten uns im Kinderspiel zur Einrichtung von kleinen Lagern, Burgen. Wir nutzten die Pioniervegetation, die Melden, um diese Lager abzugrenzen. Legten Schleichwege auf den Grundstücken an, auf denen wir Winnetou auf Spurensuche nachspielen konnten.

 

In der Oststadt bildete sich langsam so etwas wie Stadtteilbewusstsein heraus: Die Kinder aus der Schlacht, die vom Brenner, aus den Krautgärten. Einmal wurden wir von Brennerkindern zu einem Gefecht eingeladen. Nach ritterlicher Art. Das auf dem Brenner, neben dem noch vorhandenen Bunker stattfinden sollte. Als Schilder nutzen wir Werbetafeln von Hiernickel-Bräu. Aus Pappe. An denen wir Schnüre anbrachten, damit der Arm hineinrutschen konnte, um das Schild zu halten. Einfache Stecken, Reste von Bohnenstangen, waren unsere Schwerter. So zogen wir Kinder aus der Kachelstraße, Faberstraße auf den Brenner hoch zum Kampfgelände. Als wir dort unsere Gegner sahen, sahen wir auch den Schlamassel, in den wir geraten waren. Die Brennerkinder, Kinder von Bessersituierten aus der Goethestraße, hatten alle stabile Holzschilde. Nach ritterlichem Vorbild geformt, gesägt. Und zudem bemalt. Und auch Holzschwerter, die wie Holzschwerter aussahen. Mit festem Griff, Handschutz, Spitze. Und die Brenner-Schwerter waren länger als unsere dünnen Stecken. Ein einseitiges Gefecht. Die Schilder schnell eingedellt, eingeschlagen, die Stecken gebrochen. Der Bunker wurde zu unserem Gefangenenplatz. D. h. dorthin wurden wir geführt. Er hatte ja auch noch zwei ausgerundete, betonierte Bereiche. Also es war genug Platz für uns wenige Kachelstraßen-Gefangene. Wir hatten ja auch keine Schwerter und Schilde mehr. Also keine Reste von Bohnenstangen. Keine Hiernickel-Bräu Pappe mehr. Die damit auch keinen Platz mehr wegnahmen. Wir waren Gefangene der Brennerstadt bzw. von Ritter Hadumar, um an die historischen Sagen zu erinnern. Als ob die Brennerkinder Nachkommen der Ritter vom Edelberg oder von Raubritter Hadumar von der Hadermannshelle waren. Wir Kachelstraßen-Kinder hatten eine historische Lektion erteilt bekommen. Zu weiteren Gefechten waren wir nicht mehr bereit. Da uns eine Nachrüstung nicht gelang.

 

Das Monument von 1866 war zum Kinderspiel ein selbstverständliches Ziel. Wir jagten uns ein paar Runden um das Monument herum nach. Zogen die Kastanienbäume ins Spiel ein. Im Monument waren einige Löcher zu entdecken. Wohl Einschußlöcher von 1945, als eine Resttruppe deutscher Soldaten die Oststadt verteidigen wollten, sollten, mußten. Diese auffällligen Löcher bohrten wir immer wieder mal etwas aus. Wurde allerdings schnell langweilig. In der Oststadt entstanden mit zunehmenden Autoverkehr immer mehr Garagen. Oft reine Ansammlungen von Garagen. Ließ ein Autofahrer aus Bequemheit sein Tor offen, war das sofort das ideale Fußballtor. An den weißen Innenwänden waren die Abdrücke der gelungenen Torschüsse zu sehen. Auf dem Brenner waren Sammelgaragen auch gegenüber angeordnet. Wenn hier auf beiden Seiten Tore offen blieben, war das der ideale Fußballplatz. Gern streifte man als Kind am Hammberg herum, auf dem Edelberg, dem Büchelberg. Das waren sehr abwechslungsreiche Gelände. Mit Hecken, Bäumen, Hütten, Bänken, Stoarasseln, auf denen wir herumkletterten. Auch heutzutage immer noch die Fluren, in denen man gern herum streunert. 

 

 

 

 

Treffpunkt Badgarten Mauer

 

Der Badgarten, der Bereich zum Kinderspielplatz, hin, war im Sommer eine wichtige Anlaufstelle für Jugendliche. Handys, Whatsapp zum Verabreden gab es ja nicht. Man musste auch darauf hoffen, dass jemand anwesend war. Man saß auf der Mauer oder auf den Bänken. Beim Wohlfarth, Ausgang Gerbergasse / Badgasse war eine Flaschenbierhandlung. Da holte man sich die Buddel Bier bis in die Nacht hinein. Später abends wechselte man ins Quasi (Quasimodo) über. Oder man fuhr zwischendurch zusammen weg. Und kam in einem etwas anderen Zustand wieder zurück.   

 

Ein Gedicht aus dieser Zeit beschreibt den Treffpunkt Badgarten:  

 

„Sommerleben  

allabendlich neben der flaschenbierhandlung

dem künstlichen brunnen

im grünen park mit seinen braunen büschen und einladenden bänken

zieht ein hauch von fremdheit

zwischen die einfachheit der alteingesesssenen

durch das bunte volk

das sich abwechselnd

mal ernst mal heiter

sich eine insel verschafft

wo sich regenbogenfarbige wolken

aus nicht alltäglichen einflüßen bilden

wo man der eingeschlafenen welt

allabendlich eine andere gegenüberhält“  

 

Im Nachhinein betrachtet ein erstaunlicher Treffpunkt. Am Rande der Altstadt. Unterstadt. Man traf sich, redete, scherzte. Musik hatte man hier nicht. Walkman gab es ja noch nicht. Direkte Face-to-Face Kommunikation war notwendig. Selbst was los machen. Was nicht immer leicht fiel. Früher gab es noch vielerorts solche Treffpunkte in den Kleinstädten, Dörfern. Oft auch Stehplätze, an denen man sich versammelte. In Werbach, beim Dorfplatz, änderte die Straße fast rechteckig ihren Verlauf. Da waren zwei Schilder angebracht. Auf die man sich lehnen konnte. Und so den Sammeltreffpunkt markierten. Als in Wertheim noch die Straße vom Taubertal herkommend über den Marktplatz verlief, deuteten an der Maingasse ebenfalls Schilder die Richtung an. Auch dort gab es immer eine Ansammlung der Einheimischen. Die sich auf die Schilder lehnten. Heute wird der Badgarten im hinteren Bereich eher von jungen Eltern frequentiert, die keinen eigenen Garten haben, und ihre Kinder dort spielen lassen. Eine Flaschenbierhandlung im Privathaushalt gibt es ja heute auch nicht mehr. Und heute hat man ja Whatsapp, Facebook, um sich zutreffen, zu flashmobben.

 

 

 

 

Flaschenbierhandlung  

 

In den 1960er Jahren gab es in vielen Straßen noch Flaschenbierhandlungen. Also ein Verkauf von Privaten mit kleinster Gewerbegenehmigung an Private. Gern kauften auch die Maurer in den Flaschenbierhandlungen ein. Auch wir hatten eine Flaschenbierhandlung. Hiernickel-Bräu. Hassfurt. Die Bierfahrer kamen allerdings aus dem Depot Würzburg. Wenn Sie bei uns eintrafen, waren sie schon ziemlich geladen. Die bekamen nämlich immer ein Gläschen Schnaps serviert. Wohl an jeder Abladestation. Manchmal wurden auch Werbegeschenke mitgebracht. Gläser von Hiernickel. Später erfuhr man von einem Beauftragten der Brauerei, dass ein Großteil der Werbegeschenke nicht an den Außenhandel gegangen war. Nicht nur Bier wurde geliefert. Auch Afri-Kola. Das schmeckte Flower-Power mäßig gut. Und wurde von uns Kindern meistens allein genossen. Süßen Sprudel trank man damals auch noch gern. Obwohl wir doch eher selbstgemachten Himbeer- und Johannisbeerensaft zu uns nehmen sollten. Zur Kühlung lieferten die Biermänner lange Eisschollen. An der Hauswand war ein Schild von Hiernickel-Bräu angebracht.

 

Mit der Zeit hatten die Maurer ausgemauert und blieben aus. Die Neubaugebiete waren weiter auf den Brenner, ans Ende der Kapellenstraße gezogen. Die Standortungunst machte sich bemerkbar. Nur noch wenige Nachbarn bezogen ihr Bier, Sprudel, Limonade von uns. Ein Nachbarskind, das leicht ins Stottern geriet, übte vor der Haustüre das zum Kauf zu Sagende. Öffneten wir die Tür vorzeitig, gelang kaum noch ein Satz. Auch so konnte man die Kundschaft vergraulen. Irgendwann trank man das Gelieferte nur noch selber. Der Flaschenbierhandel lohnte sich nicht mehr. Das Schild verschwand von der Außenwand. In ganz Büscheme ging der Flaschenbierhandel ein. Nur im Badgarten hielt sich der Flaschenbierhandel noch längere Zeit aufrecht. Dafür sorgten wir mit unserem jugendbewegten Treffpunkt an der Badgarten Mauer.

 

 

 

 

 

 

Büschemer Wirtschaftsleben  

 

Irgendwann kam auch die Schnellrestaurantion nach Büscheme. Bei der Pompo, beim Hohl. Nun gab es eine Tüte Pommes. Klein. Groß. Dass sie kräftig gesalzen waren, störte nicht. Die Essmoderne war in Büscheme angekommen. Auch mit halben Hähnchen. Einen Vorläufer der halben Hähnchen-Esskultur gab es in Böttigheim auf dem Berghof. Aber irgendwann wollte man nicht mehr deswegen so weit weg fahren, sondern direkt konsumieren. Da kam einem diese Entwicklung gerade recht. Hatte man kein Geld, oder kaum Geld gab es auch ein Ei mit Gurke. Flipperautomaten und Kicker zogen uns an. Da konnte man mit herumstehen und musste nichts konsumieren. In der Bretze, Sonne, Block, Taubertal oder beim Hohl im Nebenraum.

 

Im Cafe Konrad, dem CC, trafen sich im hinteren Bereich die Schüler von MGG und WG. Schwarze existentialistische Rollkragenpullis waren in. Auch die Konviktler trafen hier ein. Man konnte schon ahnen, dass das katholische Priesterpotenzial drastisch abnehmen würde. Junglehrer wurden ja zunehmend in die nordbadische Provinz abgeordnet. Das brachte durchaus Unruhe in die Schülerschaft. Die Neuerungen erwartete. Das Objekt am Bahnübergang war musikalische Oase der Jugendzeit. Die Musik kam tagsüber vom Tonband. Der Wirt musste sich also nicht besonders darum kümmern. So lief Jimi Hendrix' Machine Gun fast jeden Tag. Obwohl der schon längst tot war. Es gab ja die Konfrontation zwischen Progressiver Musik und Kommerzmusik. Wie T. Rex, Slade, Sweet von den etwas älteren Jugendlichen verdammt wurden. Wir nahmen das mit. Wir waren the Children of the Revolution. In den Musikboxen wie in der Bretze oder beim Hohl lief auch Marianne Rosenbergs nasal gefärbte Bitte an Mr. Paul McCartney. Oder das Popcorn-Geduddel. Kungfu Fighting. Oder American Pie. Silvermachine von Hawkwind. Zuhause zogen wir dann eher Yes, Gentle Giant, King Crimson, Van der Graaf Generator, Audience, Keef Hartley Band, Family, Strawbs, Can und lange Musikstücke vor. Oder Bury my Heart at Wounded Knee von Gila. Im Obergeschoß der Bretze gab es eine Disco. Club. Mit kleiner Tanzfläche. Der DJ wurde meist von Mädchen umlagert, die Musikwünsche äußerten. Oft durchschnittliche. Ausflippmusik für uns war Gamma Ray von Birthcontrol. In die Disco und in die Bretze konnte man auch durch einen Hinterhof gelangen. Das war ein eher versteckter Treffpunkt. In der Königshöfer Halle wurden Anfang der 1970er Jahre Krautrock Festivals veranstaltet. In Büscheme mußte man sich in der Festhalle eher mit dem Kleinlokalkaliber Starlights befristen. Die aktuelle Hits nachspielten.

 

Der Krötenkeller, das Quasi, wurden Mitte der 1970er zum Jugendtreffpunkt. Jugendhausersatz. Wenn auch einem durchgeräucherten. Es gab eine scharfe Pizza. Nur mit Peperoni. Und dazu viel Bier. An der Theke sitzend konnte man das musikalische Programm dominieren. Und auch mal Musik spielen, die nicht allen Freaks gefiel. Es gab ja das vordere und das hintere Quasi. Das hintere war unser Quasi. Vorne fingen dann in den späten 1970er Jahren Jüngere an AC/DC zu mögen. Da bemerkte man bei sich schon einen leichten Generationsunterschied. Merkte man, dass die hinausgezögerte Jugendzeit zu Ende war. Aber irgendwann kam man dann doch noch auf Hells Balls und Highway to Hell. Und stampfte kräftig mit. Schüttelte rhythmisch oder wirr die Rübe dazu. Spielte man gar Luftgitarre? Aus dem Quasipublikum heraus entwickelten sich dann auch die verschiedenen Jugendhausinitiativen. Eine kleine Anzahl von Jugendlichen dagegen verirrten sich zum H. Immer leicht gelbsüchtig. Oder irgendwann tot. Opfer der Büschemer Provinzlangeweile. Die Langeweile lugte in dieser provinziellen Kleinstadt hinter jeder Ecke hervor und aus jeder Ritze heraus. Viele versuchten dieser Langeweile zu entrinnen.

 

Am einfachsten hatten es die Gymnasiasten nach dem Abitur aus Büscheme zu verschwinden. Die Kinder der reicheren Büschemer hatten mit dem Partykeller eigene Möglichkeiten der kulturellen Ödnis zu entkommen. Da hatte man leider als Mitglied einer anderen städtischen Schicht kaum Zugang dazu. Bei Außenpartys im Hanggarten dröhnte Paranoid den Sprait hinunter. Mitte der 1970er Jahre bauten wir im Keller des Elternhauses auch einen Partyraum aus. Wenn die Mutter in Amerika zu Besuch war, hatten wir leichtes Spiel. Der Raum, das Haus waren voll mit Leuten. Der eigenen Spontaneität waren keine Zügel gesetzt. Man fuhr mit dem Schlitten die Kellertreppe runter. Oder drummte auf den Bottichen und Eimern in der Waschküche ein Solo. Leise Töne waren da nicht angesagt.

 

Karten wurden auch gespielt. Schafkopf. Um Kleingeld. Da gedoppelt werden konnte, konnte das auch etwas teurer wurde. Man spielte gern Risiko. Vertraute darauf, dass sein Mitspieler weitaus bessere Karten als man selbst hatte. Gern wurde auch Samstag Nachmittags beim Paule, in der Tauberperle Karten geklopft. Die Sportschau schaute man sich meistens in einem der Nebenzimmer an. Man war in der Kleinstadt unterwegs. Beim Hammel. Beim Block. Oder in Dittigheim beim Straub. Leider leistete hier der Wirt immer gern Ergebnisdienst und sagte die Tore voraus, die er bei der Radioübertragung erfahren hatte. Wir wollen uns ja gern Spannung bis zuletzt erhalten. Das nichtete der Wirt oftmalig. Ein Buch über die Marx-Brothers durfte in seiner Wirtschaft nicht gelesen werden. Er duldete hier keine marxistische Literatur. Gern löffelte er eine Suppe, die unser Interesse erweckte. Die bekamen wir nicht. Die sei nur für ihn. Kegelbahn und Biergarten wurden hier ebenfalls gern am Wochenende frequentiert.

 

Auch die Büschemer Bahnhofskneipe hatte mit ihrem eher schäbigen Charme gewisse Reize. Hier trank man eine Halbe. Die Bahnhofskneipe war mit dem Kiosk verbunden. Da besorgte man sich gern eine Zeitung oder Die Zeit. In der Nähe war die Gaststätte Beutler. Eher ein Kiosk mit größerem Schankraum. Auch hier lief man regelmäßig Samstag Nachmittags ein. Die Geschäfte waren ja bereits geschlossen. Und bevor sich kleinstädtische Langeweile breit macht, wurden besondere Orte aufgesucht. Das Weiße Ross und Ritter waren Fussballerkneipen. Dorthin ging man nach dem Training oder einem Spiel. Irgendwann wurde die Cola gegen ne Halbe ausgetauscht. Die Kindheit war perdu.   

 

 

 

 

 

 

Doo hoasst oani

 

Ausgeteilt wurde in unserer Kindheit noch viel. D. h. wir steckten ein. Erwachsene. Ältere als wir teilten aus. Lieber eine mehr als zu wenig. "Doo hoasst oani. Unn dasst dr des aa märkst kriechst nooch oani dzou." Auf Büschemerisch. Selbst im Religionsunterricht wurde ausgeteilt. Die saßen. Lehrer hatten sowieso noch die Autorität. Wenn auch eine hohle. Die Lizenz zum Prügeln. Der Schüler. Kopfnüsse gabs auch noch. Oder zwei Köpfe wurden gegeneinander vom Lehrer befördert. Die Pädagogik und ihre Ansprüche waren in dieser Kleinstadt (noch) nicht besonders entwickelt. Hier hallte möglicherweise das Tausendjährige Dritte Reich noch kräftig nach. Die Leidbilder dieser Schreckenszeit. Was euch nicht umbringt, macht euch stark. Und wenn es nicht daher kam, kam es vom autoritären Muff. Auch unter den Kindern wurde einiges ausgeteilt. Schnell ausgeteilt. Wenn es Streit um etwas gab. Der Kräftigere bekam Recht. Man nahm sich das schlechte Vorbild an den Erwachsenen. Wenn man als Kind mit einem anderen raufte, unterlag, auf dem Boden mit dem Rücken war, drückte der Sieger seine Knie über die kleinen Bizeps des Unterlegenen. Muskelreiten hieß das. Beschweren über erlittene Prügel war noch nicht drin. Denn viele Eltern teilten dieses Büschemerische Leitbild. Wenn eine noch nicht reicht, dann halt noch eine. Die Hand rutschte in Büscheme damals noch oft aus. Das sah man auch einigen Kindern in der Grundschule öfters mal an. Wurde eine Mathematik-Aufgabe an der Tafel nicht gelöst, bekam man eine von hinten ins Genick. Es blieb nicht beim physischen Schmerz. Man bekam vom Lehrer auch noch einen Spott zu hören: „An der Tafel steht ein Greis, der sich nicht zu helfen weiss!“ Das saß noch mehr. Als der Genickschlag. Fiel ein Bleistift während des Unterrichtes auf den Boden, also Unachtsamkeit des Schülers, wurde dieser von einem Lehrer kurzerhand geknickt. Dem Schüler auf die Schulbank geknallt. Schülerhände mußten zur Strafe auf die Bank gelegt werden. Und bekamen eines mit dem Lineal drüber gebraten. 

 

Als Junglehrer der 1968er Zeit in Tauberbischofsheim eintrafen, meist dahin Verbannte, war das für uns eine Befreiung vom alten Muff. Wir hatten genug davon. Da wurde Unterricht endlich auch interessant. Und verdiente unsere Aufmerksamkeit. Da konnte man diskutieren. Unterricht wurde dialogisch. Keine monologisch-rechthaberische Struktur von oben herab. Aus der altbackenen Lehrerperspektive. Degenhardt's Lieder und Texte zogen ein. Beim Lied Schmuddelkinder entdeckten wir uns selbst. Sofern unterstädtischer Abstammung. Sacco und Vanzetti förderten Fragen nach historischer Gerechtigkeit. Die Pädagogen dieser Kleinstadt mußten erstmal (wieder) das Wesen von Pädagogik verstehen.  Den Film "Ich bin ein Elefant, Madame" mit seiner eindrucksvollen Charakterisierung autoritärer Lehrertypen sah man gerne an. Seine eigene Schulkarriere beendete man selber recht schnell. Und stieg in die Arbeitswelt ein. Dazu haben die Nicht-Pädagogen in dieser Kleinstadt kräftigst beigetragen.

 

 

 

 

Der Fernseher zieht in die Wohnstube ein

 

Anfang der 1960er kamen die Riesenkästen des Fernsehens ins büschemerische Wohnzimmer. Zuerst bei wenigen Kindern. Da war man sehr froh, wenn man dort mitschauen konnte. Fury. Lassie. Rin tin tin. War unser frühkindlicher Stoff. Dann kam Jedermannstraße, Graf Yoster, Kommissar Freitag dazu. Dann differenzierte sich der Geschmack aus. Renn Buddy renn. Isar12. Minimax. Immer wenn er Pillen nahm. Zunächst alles schwarz-weiß. An diesen Serien nahm man seine Vorbilder. Man lackierte Matchbox Autos mit schwarzer Farbe, da das Schwarz-Weiß suggerierte, das Verbrechersyndicat führe nur schwarze Straßenkreuzer. Dabei waren auch blaue darunter. Wie man als Erwachsener bei der Farbversion der Serie erkennen mußte. So wird Kinderspiel noch im Nachhinein massakriert. Als stärkste Sendung blieb Nummer 6 im Bewußtsein. Das Rätsel um die Nummer Eins wurde im psychedelischen Nonsense verhüllt. Und beeindruckte einen durch diese künstlerische Haltung. Keine einfache Lösung anzubieten. Eine Lösung zu zeigen, die Weiterdenken erforderte. Das war Stoff, den man zunehmend brauchte.

 

Mit dem Fernseher wurde das Wohnzimmer umgebaut. In der fernseherlosen Zeit war das Wohnzimmer noch Ort gemeinschaftlicher Spiele. Gesellschaftsspiele. Karten. Nun richtete sich das Wohnzimmer auf den Fernseher. Mit diesem in der Zentralperspektive. Zunächst ein Sender. Als noch das Zweite dazu kam, wurde in der Familie der Kampf um die Sehpräferenzen offen. Zapping war nicht. Man musste am Fernseher umschalten. Allerdings war Umschalten verboten. Man schaute immer den Sender, der zuerst eingeschaltet war. Vor der Sportschau kamen kulturhistorische Sendungen wie Links und Rechts der Autobahn. Der Fenstergucker. Landschaftsbeschreibungen, Kunsthistorisches, Schlossbesuche, Kirchen mit ihren Ausstattungen. Die sah man an, da man ja sicher stellen musste, dass danach auch Sportschau lief. Es durfte ja nicht umgeschalten werden. Irgendwie färbten sich diese kulturgeschichtlichen Betrachtungen als Langzeitwirkung auf die eigene Biographie ab. Die Popkultur zog ins Fernsehen ein. Wurde Konkurrenz zur Sportschau. Hey Hey with the Monkees. Da wechselte man mit den Schwestern das Fernsehkanallager. Erst recht bei Beatclub.

 

Kamen im Fernsehen anspruchsvollere Filme waren die Eltern schnell bereit, den Kanal zu verändern. „Das ist doch nichts.“ „So ein Klump.“ Wir stammten halt mal nicht gerade aus dem Bildungsbürgertum. Da war einfachere Kost angesagt. Auch im Fernsehen. Die Niklashauser Fart von Rainer Werner Fassbinder anfangs der 1970er wurde im heimischen Wohnzimmer nahezu eine Tortur für die Eltern. Die hatten eher einen Film mit heimischsten Lokalkalorit erwartet. Keine Verfremdung in revolutionäre Verhältnisse. In südamerikanische. Oder eine seltsame Diskussion vor nackten Backsteinwänden, ob auch eine Revolution inszeniert werden dürfe. Da war schon nach wenigen Minuten der elterliche Urteilsspruch „So ein Klump“ zu hören. Und damit das Signal zum Umschalten des Kanals. Das man nur mit entschiedenem Widerspruch verhindern konnte. Man merkte an einem selbst, dass das ein Stoff war, der einen persönlich wachsen ließ. Und aus heimischen Verhältnissen entfremdete. Allerdings ist es schon schade, dass Fassbinder Niklashausen den Pfeifer aus der Region heraus geraubt hat und in bayerische Landschaft einmontierte. Da gab es endlich im modernen Fernsehen eine Sendung über die eigene Region und dann war die nicht wiederzuerkennen (Siehe auch meine Rezension des Filmes unter: http://www.traumaland.de/html/niklashausen1.html ). Verfremdung war die Sache der Eltern, der Büschemer, nicht. Der Büschemer liebt es halt eher einfacher. Lieber eine Krumbiere als etwas Abstraktes. Lieber einen Schwartenmagen als Kulturelles.

 

 

 

 

Der Zug ist abgefahren

 

Der Büschemer Bahnhof bedeutete den etwas späten Einzug der Moderne im provinziellen Büscheme. Bahnsteigsperren verhinderten nach 1900 den ungestörten Zugang zu den Bahnsteigen. Auch der Wartesaal durfte nicht auf eigene Initiative verlassen werden. Erst kurz bevor der Zug eintraf, durften die Reisenden auch auf den Bahnsteig. Wer ohne Fahrkarte auf den Bahnsteig wollte, musste für einige Pfennige eine Bahnsteigkarte erwerben. Ebenso kompliziert war das Verlassen des Bahnsteiges. Man musste die Fahrkarte beim Verlassen abgeben. Die Bahn führte ein rigides Raumregime über ihr Bahngelände. Das wurde in Büscheme etwas laut einigen Geschichtchen von Valentin Ries gestört. Gelegentlich hatte der Fahrdienstleiter erhebliche Schwierigkeiten, den Zug abfahren zu lassen. Ein Pfiff von Valentin Ries kam ihm zuvor. Als ein Zug schon in der Abfahrt war, ruderte Valentin Ries mit seinen Armen und mit großem Krach auf dem Bahnsteig herum. Der Zug fuhr wieder zurück, um den Gast noch mitzunehmen. Von Valentin Ries war nur zu hören: „Droo kriecht“ und stieg nicht in den Zug.

 

Exzellenter Kundenservice war ja nicht gerade der Charakterzug der damaligen Bundesbahn. Man übte als Beamter ja quasi herrschaftliche Amtsgewalt aus. Das ließ man seine Kunden merken. Beim Fahrkartenkauf hatte man oft das Gefühl, zu stören. Und man bekam nur unwillig sein Billet. Ein Kärtchen, auf dem das Fahrtziel und Datum aufgestempelt wurden. Der Fahrkartenverkauf hatte einen umfangreichen Stapel von vorgefertigten Billets. Für unser kindliches Gemüt ein wunderbares Zeugnis einer vorgeordneten Welt. In der alles seinen Platz hatte. Innerlich wusste man selber allerdings zunehmend immer weniger, wohin man gehörte. Aber noch lange nicht wohin. Der Bahnhof signalisierte einem, dass man fortkommen konnte. Da der Vater zuerst Heizer, dann Lokführer war, kam man mit verbilligten Fahrkarten bzw. Freifahrten auch günstig fort. Bei Fahrten mit der Dampflok in Richtung Wertheim wurden öfters Fenster nicht vollständig geschlossen, was zur Verräucherung der Wägen führte. Der Schienenbus leistete mit seinen abgewetzten und durchgesessenen Bänken den lokalen Eisenbahnverkehr. Es gab ja auch noch ein Gleis in Richtung Königheim. Wenn auch bald nur noch Güterverkehr. Immerhin fuhr ein Eilzug bzw. Kurswagen von Frankfurt bis Friedrichshafen über Tauberbischofsheim. Nicht schnell, aber immerhin eine ziemliche Entfernung. Wie ein Fernzug. Heute ist der Regionalverkehr vom Prinzip her nur noch Stückwerk. Also kurze Strecken.

 

Inzwischen fehlen neben den verschiedenen Funktionen auch viele Nebengebäude. Das große Lagerhaus abgerissen. Früher waren wir öfters im Lagerhaus. Ein Kriegsversehrter, der dort arbeitete, beeindruckte mit seinem Handersatz. Der wie ein eiserner Stempel von ihm auf die Papiere gelegt wurden, wenn er diese abarbeitete. Als Kinder war eine Bahnfahrt auch immer Anlass, von den Eltern am Kiosk ein Fix&Foxi Heft abzuverlangen. Damit wir eine längere Fahrt ohne größere Störung der Eltern durchhielten, bekamen wir auch eines. Meistens zwei. Sonst nicht. Der Fahrplan war ja noch ein Monument des Eisenbahnverkehrs. Die Eisenbahn fuhr noch sehr oft vom Bahnhof ab. Und kam auch noch spät abends noch an. Mit der Bahn hatte man das Gefühl immer wegzukommen. Und auch wieder zurück. Mitte der 1970er Jahre wurden die Dampfloks zur letzten Fahrt gelassen und die Fahrpläne kräftig ausgedünnt. Bei jedem Fahrplanwechsel fuhren weniger Züge. Der Bahnhof verlor einen großen Teil seiner öffentlichen Raumfunktion. Das setzte sich in den Jahren danach fort. Als Kinder bekam man noch die große Zeit der Eisenbahn, der Eisenbahner in den Kleinstädten mit. So am Arbeitsplatz des Vaters in Lauda. Oder in den großen Weihnachtsfeiern der Gewerkschaft im Rügersaal. Da hielt die Eisenbahnerwelt seine letzte große Feste ab. Und feierte sich. Seine Lebens- und Arbeitsweise. Mit geschlossenen Reihen. Die bald danach auch ausgedünnt wurden. Das feste Band, das Kleinstadt und Eisenbahn zusammenhielt, wurde durchtrennt. Der Bahnhof als Wirtschaftsfunktion schrumpelte auf Minimalformat. Der Güterverkehr verschwand. Das Rollfenster im Bahnhof wurde endgültig geschlossen.

 

 

 

 

 

 

Baldachin über Büscheme

 

Der Himmel über Büscheme war streng katholisch. Überall wohin man auch kam. Er war schon da. Kirchen. Kapellen. Schule. Landschaft. Bildstöcke. Werktage. Besonders Sonntage. Wie ein Baldachin überspannte der Gebets- und Liobakult einen. Erst später entdeckte man, dass Büscheme Lioba einige Jahrhunderte untreu war. Die Verehrung auf niedriges Niveau gesenkt war. Die Wucht des praktizierten Katholizismus, dessen alltägliche Allmacht über einen, ließ einen glauben, in einer lückenlosen sakralen Landschaft, Kleinstadt zu leben. Dieses Bild erodierte mit der Zunahme von Altersjahren. Zunächst hatten wir als Kinder in der St. Martinskirche zu erscheinen. Streng getrennt nach Alter und Geschlecht. Wir Kinder wurden ganz vorne in den harten Bänken eingepfercht. Das Auf und Nieder, den permanenten Kniefall quasi unter den Augen des Pfarrers abzuleisten. Ein kirchlicher Ordnungshüter, aus kindlicher Perspektive fast so mächtig wie ein Bischof aussehend, mit einen mit religiösen Symbolen geschmückten Umhang und einem Stab versehen, sorgte für Ruhe in den Kirchenbänken. Dazu wurde auch der Stab eingesetzt, mit dem auf uns manchmal störende Kinder gezielt wurde. Es gab auch schon mal kleinere Raufereien in unseren Reihen.

 

Einen Bruch in der katholischen Tradition erlebten wir mit dem Wechsel von Stadtpfarrer Ulrich auf Mönch. Der neue hatte eine wesentliche enormere Lautstärke als der alte. Und verstörte unsere Andacht einige Zeit lang. Ein weiterer Bruch war, als wir Oststadtkinder nun in die frisch betonierte St. Bonifatiuskirche zu gehen hatten. Zunehmend gingen wir an der Kirche vorbei und trafen uns auf dem kleinen Bolzplatz neben der Kirche. Zum Fußballspiel. Das hatte den Vorteil, dass man zunächst in Richtung Kirche ging, und sich nach der Kirche leicht unter die aus der Kirche zunächst noch mächtig hinausströmende Masse der Kirchenbesucher mischen konnte. Nun saßen wir nicht mehr ganz vorne. Und wurden zunehmend von der Messe abgelenkt. Damit wir nicht zu sehr abgelenkt wurde, bohrte mancher Erwachsener von hinten seinen Regenschirm in unseren Rücken. Sonntags musste man als Kind sich ja noch besonders anziehen. Halt die Sonntagskleidung. Die war bei unserer Substitution der Messe durch Fußballspiel etwas hinderlich. Schwierig wurde es, als man einem Schuss entgegen hechtete und mit dem Knie hart auf dem kaum noch vorhandenen Rasen des Bolzplatzes aufkam. Die Sonntagskleidung hatte nur geringe Widerstandsfähigkeit. Ein Loch in der Hose demonstrierte die nicht mehr ganz so heile Welt. Man versuchte mit einem Kleber das Malheur zu verdecken. Das gelang nicht richtig. Und man benötigte eine Ausrede um diesen Unfall zu erklären. Nach der Entdeckung der Entweihung der Sonntagskleidung durch ein Loch in der Hose. Und dessen kaschierende Verklebung.

 

Vor dem Kirchgang wurden wir jedes Mal von der Mutter einer Observation unterzogen. Schon an der Haustüre stehend. Ob alles so nach ihren Maßstäben passte. Öfters spuckte sie kurz auf ihre Finger und vollführte sie eine letzte Reinigung unseres Gesichtes. Um einen Liobaweck zu bekommen mussten wir unsere Fahrräder säubern und schmücken. Und auf dem Marktplatz vor der Liobakirche herumstehen. Für eine „Tante“ in Mannheim mussten wir immer einen extra Liobaweck ergattern. Der durfte nicht gegessen werden. Den legte die Tante zu den anderen trockenen zwischen ihre Matratzen. Der katholische Baldachin über Büscheme spannte sich also noch weiter aus. Auch die Auswanderer in die Industrieregion Mannheim wurden noch einbezogen. Wenn auch mehr auf symbolische Weise. Dem Büschemer Katholizismus entkam man nicht so einfach.

 

 

 

 

 

Pädagogen und Nicht-Pädagogen  

 

Zu einigen der Nicht-Pädagogen in dieser Stadt hat man ein sehr schwieriges Verhältnis. Provokation wurde nicht produktiv aufgefasst, sondern als Störung des Unterrichtes im Allgemeinen. Nicht als deutlichen Hinweis, seine eigene Unterrichtsgestaltung zu hinterfragen. „Das Diskutieren sei wie eine ständige Krankheit“ fasste der Wertheimer Gymnasiums Direktor Max das bürgerschaftliche Engagement seine Schüler missverstanden zusammen. So entstand kein Dialog zwischen Schüler und Lehrer. Sondern eher Konfrontation. Die mit der Machtausübung des Lehrers, der Lehrkräfte endete. Eine Strafarbeit wurde auf einer Rolle Klopapier abgeliefert. Was wiederum neue Strafarbeit einbrachte. In einer Chemiearbeit unter einem ziemlich öden Lehrer ohne jegliches pädagogisches Geschick sollte eine Reaktion eines Gases beschrieben werden. Im Geiste des Zeitgeistes antwortete man kurzerhand „Kampf der Reaktion“. Das gab ne glatte Sechs. Die man auch kurzerhand, die anderen Notenstände missachtend, im Zeugnis wiederfand. Der Nicht-Pädagoge wusste, wem das galt. Man hatte verschissen. Der Lehrer trat später, nachdem man schon lange diese Schule verlassen hatte, unter sehr dramatischen Umständen ab. Das eigene Verhältnis zu den Nicht-Pädagogen war also eher gestört, als glücklich.  

 

Dagegen konnte man mit Lehrern, die auch Pädagogen waren, sehr gut. Das waren aber zu wenige, um eine gelingende Schulkarriere hin zulegen. Mit den 1968ern kamen Junglehrer nach Büscheme. Oder frische Kapläne. Sie tanzten allerdings nur kurze Zeit. Und brachten die Schulverhältnisse etwas ins Wanken. Unter den Schülern entstand der Geist der 1969er. Die Revolution brauchte halt ein Jahr, um auch nach Büscheme und Werde zu kommen. Das war der Zeitgeist, den man brauchte. Der aber verglühte. Nicht die Schule dauerhaft in Funken versetzen konnte.  

 

Als Lateinlehrer hatte man die ersten Jahre Adam Kempf * aus Werbach. Der konnte leider einem Latein nicht grundsätzlich näher bringen. Im Nachhinein betrachtet sehr schade. Dass man den altsprachlichen Zug nicht richtig auf die Gleise brachte. Entgleiste. Bei Kempf spürte man trotz seiner Bewunderung der alten Latein- und Griechisch-Götter seine ländlich-bäuerliche Herkunft. Man merkte ihm an, dass er sich aus einfachsten Verhältnissen heraus erhoben hatte. Aber nicht abgehoben. Zu etwas wurde. Etwas konnte. Wenn man auch selbst davon wenig profitieren konnte. Er hatte für einen allerdings nichts von dem Zynischen der Nicht-Pädagogen gemein. Er bemühte sich. Wollte uns etwas beibringen. Damit wir ihm gleich uns aus niederer Herkunft erheben würden. Aber der eigene Geist war leider etwas schwach in dieser Zeit. Anderen Dingen zugeneigt. Die keine schulische Anerkennung fanden.  

 

Das Gymnasium hatte durch die zahlreichen Konviktler eine starke altsprachliche Dominanz. Durchaus eine elitäre. Hier entstand der Priesternachwuchs des Bistums. Oder auch eine starke Verankerung von Personen mit büschemerischer Schulausbildung in der höheren Beamtenschaft Badens. Viele Dörfer der Umgebung hatten Söhne auf das Konvikt geschickt. Nicht umsonst hieß die Gegend scherzhaft auch Heiliges Land. Aber das Modell Konvikt war in den 1970er Jahren kein Zukunftsmodell mehr. Auch wenn man noch dem alten Gebäude ein neues daneben stellte. Das büschemerische altsprachliche Modell brach zusammen unter den Anforderungen neuer Zeit, moderner wirtschaftlicher Verhältnisse, die den Weg in die Priesterschaft nicht mehr attraktiv für einen aus dem ländlichen Raum Stammenden machte. Es gab nun Alternativen. So ging fast gleichzeitig die eigene Schulkarriere rasch zu Ende. Und auch eine Büschemer Institution.

 

 * Anhand seines 1987 veröffentlichten Gedichtbandes: Adam Kempf: Erlebtes und Erlittenes. Gedichte. Eigenverlag. Werbach 1987 habe ich mich in einer Rezension näher mit ihm auseinander setzen könnnen. Siehe:

Gymnasium


 

  

 

 

Klassenkampf im Klosterhof  

 

Im Klosterhof war für uns oststädtische Schulkinder die Grundschule. In gemischter Klasse mit Kindern aus der Unterstadt. In der ersten Klasse malten wir so ne Art Regenschirm auf die Schiefertafel. Mit einem Schwämmchen wischten wir das Gekrakel wieder weg. Dieses Schwämmchen hing uns beim in die Grundschulegehen aus unserem altmodischen Schulranzen heraus. Da zogen wir die anderen daran. Damit sie ins Wanken gerieten.  

 

An der Tauberkreuzung vor der Tauberbrücke gab es noch keine Ampel. Aufgrund des anarchischen Autoverkehrchaos versuchte ein Schutzpolizist das Ganze mit Handzeichen zu lenken. Wir kannten diese Zeichen nicht so richtig. Gingen, als wir nicht gehen sollten. Standen, als wir laufen sollten. Fuhren mit unserem Fahrrad an, wenn wir stehen zu hatten. Standen mit dem Fahrrad, als wir schon längst unterwegs sein mußten. Wir wurden deshalb kräftig zur Sau gemacht. Vom grünen Männeken. Unser Grundvertrauen in die Ordnungsfunktion der Polizei war schon von früh auf ramponiert. Beschädigt.  

 

Auf der Tauberbrücke angekommen rempelten wir uns kräftig an. Manche fielen hin. Die Durchquerung der Unterstadt, wenn auch nur die der Hauptstraße, war risikoreich. Es gab ja noch keine Fußgängerzone. Vielmehr versuchte der Autoverkehr auf Teufel komm raus durch zu kommen. Sowohl rein, als auch raus. Alle Geschäftshäuser waren mit dem Geschäftsbereich noch nicht ebenerdig zur Straße. Sondern hatten noch Treppen hoch. Die in die Straße hinein verlängert waren. Und damit Verkehrshindernisse waren. Besonders für uns junge Grundschüler, die jeden Morgen die büschemerische Odyssee durch die büschemerische Unterstadt zu leisten hatten. Vom Autoverkehr an die Wände gedrückt wurden.  

 

Der Klosterhof war unser Freigelände. Unser Aufmarschgebiet. Wir zogen den Schulranzen verkehrt rum auf. Er lag nun vor unserem Bäuchchen. Wir trommelten auf den Ranzen. Sangen 1963 Yeah Yeah Yeah. 1964 Humba Humba Täterä. Wir hatten Kurzschuljahre. Mußten trotzdem lange auf die Sommerferien warten. 1962 tauschten wir noch Fussballbilder von der WM in Chile. Obwohl wir schon längst gegen Jugoslawien ausgeschieden waren. Wir hatten halt kein Geld. Und der Wert unserer Helden wie Farian im Tor war drastisch gesunken.

 

Der Abort im Klosterhof war noch ein richtiger 1960er Abort. Es wurde an die Wand oder in einen Trog gepinkelt. Offen für beide Seiten war die Schwingtür. Nach Innen und Außen. Rumste gegen mein Auge. Gegen mein bald blaues Auge. Das passte zu Cassius Clay. Gegen Sonny Liston. Die beidseitigen Treppenbereiche des Klosterhofgebäudes wurden kräftig gewichst. Glatt wie eine Eisfläche. Wir flogen entweder hoch. Oder runter. Oder schubsten uns ins Holzgeländer.  

 

Irgendwie, irgendwann kamen wir auch in der Räumlichkeit an, die uns für den Unterricht festhielt. Die Holzbänke waren noch aus der Prä-Vereinigten Schulmöbelzeit. Mit einem Einlaß für ein Tintenfässchen. Erst ab dem zweiten Schuljahr durften wir die Tinte daraus per Füller auf andere Klassenkameraden abschießen. Ein Jahr lang galt Wisch und Weg. Auf der Schiefertafel. 1965 war unser Pausenhit im Klosterhof „My Baby balla balla“. Die Schule ging irgendwie voran. Dramatisch war immer wieder ein Auftritt eines Vaters aus der Unterstadt. Der ziemlich unverständlich im Klassenzimmer herumbrüllte. Wir waren uns nicht einig, ob er aus der Dörgei, der Wallachei, oder der Bolagei stammte. Er fand auf jeden Fall immer wieder mal den Weg ins Klassenzimmer und brüllte laut herum. Die Hausaufgaben überforderten zunehmend nicht nur die Grundschüler, sondern vor allem die Eltern. Dabei stand die Mengenlehre noch gar nicht auf der Tagesordnung. Die Mengenlehre beschädigte nach 1966 grundlegend die Autorität der Erwachsenen. Da diese keine Ahnung von Mengenlehre hatten.  

 

Wir verstanden allerdings die Auslesefunktion der Grundschule. Die guten ins Gymnasium, die Angestellten in die Realschule, die Bauarbeiter in die Hauptschule. Büscheme lebte vom Klassensystem. Der Deklassierung. Das war offen kaschiert. Der Büschemer an sich benennt keine Klassenunterschiede. Er idealisiert sie. Tut so, als wäre die ackerbürgerliche Klasse das Büscheme an sich. Das es nie war. Die Honoratioren gehörten nie dazu. Sie imitierten höchstens. Ein Gemeinsames. Dabei war die Trennung in Ober- und Unterstadt eindeutig. Auch als die Oberklasse an die Hänge von Sprait, Wellenberg und Brenner zog, einen offensichtlichen Höhenunterschied einnahm. Blieb die Illusion des Büschemerischen. Ohne Unterschiede. Ein Fiktion. Eine unreine. Die Grundschule sortierte nach einer System der Klassifikation ein und aus. Das hatten wir verstanden. Trotz „We all live in a yellow submarine“. Das zum Abschluss der Grundschulzeit folgte.

 

 

 

 

 

 

 

Zwischen Büscheme, Büschi und Uissi  

 

Die Ferien verbrachten wir in der Kindheit teilweise außerhalb von Büscheme. In Uissigheim, bei Oma und Opa, in Hofstetten. Wir halfen dort in der Landwirtschaft mit. Bei der Ernte. Fuhren mit den Kühen mit aufs Feld. Das war noch vor der Mähdrescherzeit. Ging also alles noch sehr gemächlich zu. Mit viel eigener Körperkraft. Oder wir nutzen die Zeit, durch die Fluren zu streifen.Zur Kapelle auf den Stahlberg hinauf. Zur Fatimagrotte. Den Roten Rain hinunter nach Gamburg. Die Bettelsmannküche aufsuchend. Uissigheim hatte im Landschaftsbild noch lange einen Nachklang der Dreifelderwirtschaft aufzuweisen. Mit geschlossenem Anbau gleicher Getreidesorten in den Fluren. Die Flurbereinigung setzte diesem historisch zugewandten Landschaftsbild ein Ende. Es war noch eine Reise in nicht motorisierte Landwirtschaftszeiten. Wir fuhren auch mit unseren Kinderfahrrädern größere Entfernungen weg. Nicht ohne Platten. Früher gab es aber noch genug lokale Werkstätten. Die dieses Malheur beseitigen konnten. In Kirchheim. In Külsheim.

 

Der früheren Straßen hatten noch nicht die Begradigungen der heutigen Zeit. Die Höhennivellierungen. Es ging rauf und runter. Um scharfe Ecken rum. Man fuhr langsam. Man merkte das Bauchkribbeln nach jeder drastischen Höhenüberquerung. Nach Hochhausen gab es nur einen löchrigen Weg. Keine Straße wie heute. Nicht asphaltiert. Auf einer Fahrt nach Würzburg mit unserem VW Käfer sahen wir die ersten Verkehrstoten. Ein Auto, dass uns noch waghalsig kurz nach Gerchsheim überholte, verunglückte ungefähr bei der früheren kurmainzisch-würzburgischen Geleitwechselstelle, also beim Abzweig der Straße ins Welzbachtal in Richtung Werbach. Fahrer und Beifahrer lagen nun tot auf der Straße. Sichern mit Gurt gab es damals ja noch nicht. Als Kinder kannten wir Tote aus eigener Praxis ja noch nicht. Nun wurden wir in das Werden und Vergehen dramatisch brutal auf einer Landstraße eingewiesen.

 

Der Uissigheimer Opa war der erste in der Verwandtschaft, den wir als Kinder bei seinem Tod begleiteten. Früher wurden die Verstorbenen ja noch einige Tage im eigenen Haus aufbewahrt. Es war eine merkwürdige Erfahrung, den Opa nun erkaltet auf einem Bett in der Wohnstube zu sehen. Ohne jegliche Rührung. Da er uns bisher die Felder und Wiesen gezeigt hatte, in der Werkstatt sein Schuhmacherhandwerk demonstrierte. Nun gingen wir zum erstenmal auf einen Friedhof, um einen nahen Verwandten zu verabschieden. In Uissigheim waren wir sehr stark mit geschichtlichen Ereignissen konfrontiert worden. Der selige Arnold von Uissigheim. Einem Judenschlächter. Da der Geburtsname der Mutter auch auf Arnold lautete, begannen wir bei Besuchen in der Uissigheimer Kirche angesichts des schwarz gefärbten Grabmals von Ritter Arnold über mögliche historische Verbindungen nachzudenken. 1966 wurden die Feiern zu 1200 Jahre Uissigheim und die Herausgabe der Ortschronik historisch prägend. Historisches wurde für einen wichtig. Im Unterschied zwischen Büscheme und Uissigheim wurden auch kulturelle Unterschiede deutlich. Zwischen Kleinstadt und Dorf. Zwischen Modernisierung und Tradition. Aber auch die sprachlichen. Büschi und Bischeme. Uissi und Uissiche. 

 

In Tauberbischofsheim hatten wir in unserem Neubau eigene Räumlichkeiten für Bad und Toilette. In Uissigheim gab es kein Bad. Der Klo war noch ein Plumpsklo über dem Schweinestall. Statt Toilettenpapier schnitt der Opa die gelesenen Zeitungen in Streifen und legte diese ins Klohäuschen. Das Außenklo spiegelte selbstverständlich die Außentemperaturen wieder. War es 10 Grad im Minus, entsprach das auch der Temperatur im Klo. Als kleine Kinder schliefen wir im Bett von Opa und Oma mit. Wenn man nachts pinkeln musste, ging man nicht extra zum kalten Außenklo. Unter dem Bett gab es den Bottschammber, die Mitternachtsvase, dem Nachthafen. In den hinein verrichtete man seine Notdurft. Ein ziemlich scharfer Geruch begleitete einen durch die Nacht und durch die Träume.

 

In Uissigheim wurde noch kräftig selbst geschlachtet. Ein jährlicher Höhepunkt. Kesselfleisch. Frische Leberwürste. Bratwurst. Blutwurst. Schinken. Aber man lernte auch das Ende einer Sau kennen. Das Werden, das Sein einer Sau als solcher und deren Vergehen. Und Übergang. Ins fleischlich Genießbare. Der Sau ihr Ende ist der Wurscht ihrn Anfang. Der Sau ihr Ende nahm uns jedes Mal innerlich heftigst mit. Wir erlebten ihre enorme Aufregung, wenn der Metzger ungewohnter Weise zu ihrem Stall kam. Um sein Handwerk auszuüben. Ihre drastische berechtigte Angst, als es um ihr Leben ging. Das nun radikal ein Ende fand. Ihr energisches Grunzen, um die Unzufriedenheit über die kommende Situation auszudrücken. Der Wurscht ihrn Anfang befriedigte uns. Und schmeckte gut. Sau gut.

 

 

 

 

 

TSV. Haut sie blau!

 

So lautete unser sonntäglicher Schlachtruf. Unser 14tägiger. Auf dem Fussballplatz. Dem Hartplatz. Dem roten. Steinigen. Kleinsteinigen. Im Stadion. Tauberstadion. In der Amateurliga Odenwald. In der Kreisklasse. Dem Spannungsgebiet. In dem unsere fußballerischen Helden spielten. Wir hatten einen Offensivmann, der gern flog. Am liebsten im Strafraum fallend. Oder in der Nähe. Wenn auch nicht immer erfolgreich. Sahen wir ihn weit später in der Fußgängerzone, galt unsere Aufmerksamkeit ihm: „Achtung! Gleich fällt er. Elfmeter.“ Unser Mann im Tor flog auch gern. Jedem Ball expressiv entgegen. Wenn auch nicht immer erfolgreich. Die zweite Mannschaft spielte immer vor der ersten Mannschaft. Immer gegen die Mannschaft, gegen die auch die erste spielte. Sogenannte Reservemannschaften. Deren Spiele fingen schon um 13 Uhr an. Deshalb mussten wir uns die Knödel des Sonntagsbratens sehr rasch hinein schieben. Da wir in der Kinderzeit noch recht hungrig waren, konnten das auch acht Stück sein. Kräftigst in die Soße eingetunkt. Das Spiel der Reserve war wenig erquicklich. Kaum gelungene Ballkombinationen. Die wir auch bei der ersten öfters missen mussten.

 

Dafür gab es hier schon mehr Dramatik. Im Spiel gegen Distelhausen. Nach einem überraschenden 0:3 Zwischenstand. Uns überraschenden. Wir riefen ja unverdrossen: "TSV. Haut sie blau!" Der TSV kam ergebnistechnisch näher. Auch wenn wir genau gesehen hatten, dass der Ball durch die Löcher im Netz des Tores auf dem Hartplatz ins Tor schlüpfte. Hoffenheim ließ Jahrzehnte voraus grüßen. Wir steigerten die Dramatik des Spieles mit unserem Ruf: "TSV. Haut sie blau." Dabei war das weder die Farbe des TSV (weiß-rot, also kurmainzisch) noch die des SV Distelhausens. Kurz vor Halbzeit Elfmeter für Distelhausen. Eine wohl spielentscheidende Situation. Der Schuß. Des Distelhäusers. Unser Männle im Tor hält. Den Elfmeter. Den ersten Teil des Elfmeters. Dann der Nachschuß. Des Elfmeters. Der zweite Teil. Geht in den Kasten. Doch der Schiedsrichter pfeift. Zur Halbzeit. Mitten in den Nachschuß hinein. Finito. Distelhausen protestiert. Wir Regelunkundigen „TSV. Haut sie blau!“ Rufenden waren uns einig. Hat zu lange gedauert. Die Ausführung. Des Nachschusses. Des Distelhäuser Elfmeternachschusses. Die zweite Halbzeit brachte die Wende. Für den TSV. Dem Blaumacher. 4:3. Am Ende. Gegen die vom Dorf. Distelhausen. Dem baldigen Stadtteil. Gegen die Schniedhäbbe. Aber ohne Rivalität ging das nicht ab. Lange nicht. Als Distelhausen kurz vor der Meisterschaft stand, im letzten Spiel gegen den TSV also gewinnen mußte, legte sich der besonders ins Zeug. Gewann mit 1:0. Die Meisterschaft erhielt Viktoria Wertheim. Die bereits für den Meisterumzug bereit stehende Blaskapelle marschierte ungeblasen wieder nach Hause. Die mitgebrachten Blumensträuße blieben unüberbracht. 

 

Gegen den FV Lauda war Fussball in der zweiten Halbzeit eher Nebensache. Gegen die Blauen. Es ging nun ans Eingemachte. Die Fäuste regelten noch offene Fragen. "TSV. Haut sie blau." Allerdings hatte Lauda einige schlagkräftigte Varianten am Spielfeldrand stehen. Und verabschiedete sich nach 1979 für einige Jahre durch Aufstiege nach oben aus den Lokalderbys. Dabei hatte es für den TSV Haut sie blau! einige Jahre ganz gut ausgesehen. Mit einer forcierten Jugendarbeit. Unter einem engagierten Jugendtrainer. Der viel Zeit und Geld in die Jugendkickerei steckte. Immerhin. Einer kam durch. Bis nach Köln und Kaiserslautern. Genauer gesagt es kamen einige danach noch durch. Und einige nach Lauda. Das bis in die Oberliga Baden-Württemberg aufstieg. Lange sehr erfolgreich. Der TSV kam immerhin zweimal in die Verbandsliga. Wir riefen da allerdings schon lange nicht mehr: „TSV. Haut sie blau!“